Missbrauch an der Odenwaldschule: "Eine aufgeladene Atmosphäre"

An der Odenwaldschule herrschte eine straffe Hierarchie, urteilt der ehemalige Lehrer Friedrich Schreyer. Weder Schüler noch Lehrer hätten dort Zeit für sich gehabt.

"Man war doch nie - außer im Schlaf - allein": Blick auf die Odenwaldschule. Bild: dpa

taz: Herr Schreyer, Sie waren 2003 bis 2004 Lehrer an der Odenwaldschule. Hörten Sie von den Missbrauchsvorwürfen aus dem Jahr 1999?

Friedrich Schreyer: Nein, aber ich hatte immer so ein komisches Gefühl, das ich mir nicht erklären konnte. Da war so eine aufgeladene Atmosphäre. Ich hatte mal so ein Gegrummel und Gerüchte über den ehemaligen Schulleiter Becker gehört. Aber das kam - so glaubte ich damals - eher vonseiten der Schülerinnen und Schüler. Der Begriff "sexueller Missbrauch", das war für sie oft so eine Art Totschlagargument, es wurde manchmal so leicht dahergesagt - so mein Eindruck. Im Lehrerkollegium war das kein Thema. Das, was ich heute weiß, hätte ich damals für absolut undenkbar gehalten.

Wie kamen Sie mit dem familiären Aufbau der Schule zurecht?

Ich bin eigentlich ein Mensch, der Distanz braucht. Deshalb war ich froh, im Humboldt-Haus in einem anderen Stockwerk zu wohnen als die SchülerInnen. Man musste immer präsent sein, Wecken, gemeinsames Frühstück, Mittag- und Abendessen, Schulaufgaben beaufsichtigen, abends Gespräche mit den Kindern, tägliche Konferenzen. Man ist so beschäftigt, man kommt kaum zu sich selbst. Manchmal frage ich mich, wann denn der Becker diese Taten begangen hat. Man war doch nie - außer im Schlaf - allein. Vor allem die Mädchen wollten oft Möglichkeiten des Rückzugs und sagten: "Ich will endlich nur ein paar Stunden alleine sein!" Die kamen ja gerade aus Verhältnissen, wo es keine eigenen Zimmer für sie gab.

Was waren das für Verhältnisse?

Damals kamen etwa 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen übers Jugendamt in die OSO. Da waren schwierige Fälle dabei, es gab Drogen-, Alkohol- und schwere psychische Probleme. Das waren teilweise erschütternde Schicksale. Die zuständigen Sozialarbeiter kamen regelmäßig alle drei Monate vorbei, zudem gab es externe Therapeuten. Oft habe ich nachts stundenlang mit den Eltern telefoniert.

Sie haben also nichts von einem Elite-Internat bemerkt?

Wenig. Manchmal erfuhr ich, dass ein Vater Botschafter war, oder spürte, dass die Familie Geld haben musste. Die Odenwaldschule empfand ich zu keinem Zeitpunkt als linkes Projekt, die Eltern waren eher konservativ. Es war da eine große Bescheidenheit, es gab keine auffallend modische Kleidung. Aber manchmal kam es mir vor, als fehle etwas der Kontakt zur realen Welt.

Wie empfinden Sie die aktuelle Debatte um die Reformpädagogik?

Ich glaube, in den vergangenen Wochen schreiben Leute in den Zeitungen nur über Geschriebenes. Die haben vom Alltag in der Schule keine Ahnung. Einige scheinen nur das Ziel zu haben, mit der Diskussion über die sexuelle Gewalt an der OSO die gesamte Reformpädagogik plattzumachen.

Wie sah die Reformpädagogik denn in der Praxis aus?

Von der Reformpädagogik als strengem Fahrplan habe ich nicht viel bemerkt, aber vielleicht war es das ja gerade. Was mir nach und nach immer deutlicher auffiel, war, dass ich noch nie einen Schulleiter gesehen hatte, der so viel Macht hatte wie an der Odenwaldschule. Das ganz Demokratische, das ich aufgrund dessen, was so in den Medien über die OSO geschrieben und berichtet wurde, erwartet hatte, habe ich so nicht erlebt. Ich war vielleicht auch etwas naiv. Ich hatte immer das Gefühl einer für alle starken Kontrolle, damit ja nichts Schlimmes passieren kann, sogar beim Karneval. Alles wirkte irgendwie so eingetütet.

Und was fehlte Ihnen?

Es fehlte etwas wirklich Sinnstiftendes, eine Vision. Manche haben, ein paar Wochen, nachdem sie ankamen, gesagt, es sei alles so langweilig, kein Autoverkehr, nicht mal ein Unfall. Ich spürte da so einen Freiheitsdrang. Vielleicht haben wir uns deshalb im Ganzen in unserer Familie gut verstanden, weil wir alle oft einen zu großen Freiheitsdrang spürten.

Sind Sie überzeugt vom Konzept der Schule?

In der Summe glaube ich, dass die Odenwaldschule für viele Kinder besser ist als die staatlichen Schulen. Kein Fernsehen, keine Ablenkung, feste Strukturen. Familie bedeutete auch Regeln. Das alleine hat durch die Konstanz einen beobachtbaren positiven therapeutischen Effekt. Man konnte die Neulinge in der OSO oft schon am Gang erkennen, die zappelten anfangs immer ein wenig herum. Und man konnte zusehen, wie die nach und nach ruhiger wurden. In dem einen Jahr habe ich keine Schlägerei gesehen. Die Schüler lernen, besser als in staatlichen Schulen, sich zu artikulieren. Viele kamen mir sehr erwachsen vor.

Haben Sie Vorschläge, was man besser machen könnte?

Es gab damals schon gute Ansätze zur Veränderung, bei Schulentwicklungsseminaren kamen sehr viele gute Ideen. Aber das Umsetzen dieser Ideen bei einer so komplexen Schule nimmt Kraft und Zeit in Anspruch. Es gab viele, viele langsame Abstimmungsprozesse. Vielleicht sollte man zur Entlastung der Lehrerinnen und Lehrer Familien- und Lehrerdasein trennen. Trotz allem möchte ich die Zeit, die ich dort war, nicht missen. Und ich will einfach glauben, dass der Missbrauch im Jahr 2003 schon nicht mehr existiert hat.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.