Suizide junger Türkinnen: "Ich habe mir den Kopf erkältet"

Die Suizidrate bei jungen türkischstämmigen Frauen ist hoch. Ein Forschungsprojekt der Berliner Charité untersucht die Ursachen, will aber auch aufklären - und Hilfe leisten.

Trauer und Scham: Die Selbstmordrate bei jungen türkischen Frauen ist doppelt so hoch wie bei Einheimischen. Bild: Juttaschnecke/photocase.de

taz.de: Letzte Woche startete die Charité die Kampagne "Beende dein Schweigen, nicht dein Leben". Wen wollen Sie damit erreichen?

Meryam Schouler-Ocak: Wir möchten türkischstämmige Frauen, also Berliner Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, erreichen und hier insbesondere die jüngeren türkischstämmigen Frauen. Daten zeigen, dass sich türkische Frauen doppelt so häufig selbst töten wie Einheimische. Wir wollen mit unserer Aktion verzweifelten Mädchen und Frauen sagen: Holt euch Hilfe! Ruft an! Sprecht über eure Probleme!

Gibt es gesicherte Zahlen?

Andreas Heinz ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Campus Charité Mitte. Er studierte Medizin, Philosophie und Anthropologie in Bochum, Berlin und an der Howard University, Washington DC. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Sozialmedizin ist Sprecher der Ständigen Konferenz der Lehrstuhlinhaberinnen und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland.

Meryam Schouler-Ocak ist Oberärztin an der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St.-Hedwig-Krankenhaus, sie leitet dort die AG Versorgungs- und Migrationsforschung, Sozialpsychiatrie. Die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist Vorsitzende des Berliner Bündnisses gegen Depression e.zV.; sie ist die Initiatorin der aktuellen Kampagne "Beende dein Schweigen, nicht dein Leben".

Ein Plakat ist Teil einer Medienkampagne, die seit einer Woche in Berlin läuft. Sie soll junge Frauen aus türkischstämmigen Familien ermutigen, sich bei Selbstmordgedanken an eine neue Beratungsstelle zu wenden. Auf dem Plakat der Kampagne ist eine junge Frau mit dunklen Locken zu sehen, ihr Mundwinkel zeigt nach unten, Tränen laufen ihr über die Wange – sie weint. Durch die Mitte des Bildes verläuft eine Grenze in Form einer gekringelten Telefonschnur, die das Gesicht des Mädchens in zwei Hälften teilt. Auf der anderen Seite der Schnur deutet der Mundwinkel nach oben, die junge Frau lächelt und blickt Betrachter fröhlich und zuversichtlich an. Darüber steht auf Deutsch und auf Türkisch: "Beende dein Schweigen, nicht dein Leben".

***

Hintergrund ist eine Studie, nach der junge Türkinnen in Deutschland etwa doppelt so häufig einen Suizidversuch begehen wie Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund. Die Kampagne "Beende dein Schweigen, nicht dein Leben" wird unter anderem vom vom Bundesforschungsministerium finanziert.

***

Kontakt:

Hotline 018 05-22 77 07 (Montag bis Feitag von 9.00 bis 16.00 Uhr)

www.beende-dein-schweigen.de

Meryam Schouler-Ocak: Es gibt eine regionale Studie aus Frankfurt am Main, die besagt, dass 30 Prozent aller Patienten, die dort nach einem Suizidversuch in die Akutpsychiatrie kamen, junge Frauen mit türkischen Wurzeln waren. Dies belegen auch Daten der WHO-Multicenterstudie aus dem Raum Würzburg von Professor Schmidtke: Die Suizidversuchsraten bei türkischstämmigen, insbesondere jüngeren Frauen, ist um ein Vielfaches höher als unter einheimischen Frauen.

Wie oft werden in Ihrer Klinik türkischstämmige Frauen nach einem akuten Suizidversuch behandelt?

Meryam Schouler-Ocak: Manchmal sind es zwei bis drei Frauen in einer Woche, dann wieder über Wochen keine. Sie kommen aus allen Schichten. Die meisten stecken in einer akuten Krise.

Ihre Kampagne in Berlin ist Teil eines Forschungsprojekts. Was erforschen Sie?

Andreas Heinz: Man schaut erst mal nach der Zahl von Suizidversuchen und dann gibt es die Interventionskampagne. Dann prüft man, ob sich danach was verändert hat. Damit man nicht einfach einem Zeittrend aufsitzt, gibt es eine Paralleluntersuchung in Hamburg ohne Intervention. Und man würde dann hinterher ein Argument haben, dass sich solche Interventionen lohnen. Das Problem bei Präventionen ist oft, es wird was Tolles gemacht, aber man hat keine Kontrolle, keine Vergleichsgruppe. Und dann landen neue Ansätze auf dem Beispielhaufen für gute präventive Versuche. Und kein Mensch finanziert das Projekt weiter.

Polemiker und Rassisten reden gerne über die kriminellen, halbwilden Jungs aus der türkischen Community, die es nicht schaffen, einen Arbeitsplatz zu finden oder den Hauptschulabschluss zu machen. Ist das Gegenstück zu diesem aggressiven Kerl das suizidgefährdete Mädchen? Medialer Zündstoff also?

Andreas Heinz: Diese ganze Diskussion ist stigmatisierend und falsch, weil man übersieht, dass die meisten Menschen, die mit Drogen handeln, das auf kleiner Ebene tun, um ihren privaten Konsum zu finanzieren. Wir versuchen seit über zehn Jahren eine Öffnung des Gesundheitssystems zu bewirken, weil Drogengebrauch, Drogenhandel häufig den Migranten angehängt wird. Und wenn Sie schauen, dann gibt es für Migranten riesige Zugangsbarrieren zum Suchthilfesystem. Migranten kriegen keine Hilfe für ihre Abhängigkeit oder Erkrankung.

Wie die gefährdeten Mädchen, die nicht wissen, wohin mit ihren Problemen?

Andreas Heinz: Ja. Zum Teil, weil sie nicht informiert werden, weil es keine muttersprachlichen Angebote gibt, weil eben diese Ungleichbehandlung bei den Jungs mit Angst vor Abschiebung verbunden ist, weil sie häufig schlechte Erfahrungen gemacht haben und denken, das Gesundheitssystem wird mich genauso behandeln. Und wir wissen auch: Zwischen psychischer Gesundheit und sozioökonomischem Index gibt es einen Zusammenhang. Da wird zu wenig getan und auch zu wenig darauf hingewiesen.

Meryam Schouler-Ocak: Wir sind hier in Berlin-Mitte, dem Bezirk mit den meisten Menschen mit Migrationshintergrund neben Kreuzberg und Neukölln. Wir haben sehr viele Patienten, die am Existenzminimum leben müssen. Die sich schämen zum Sozialamt zu gehen, weil es ihnen unangenehm ist.

Also ist die Gefahr des Suizids nicht nur ein migrantisches Problem, sondern auch ein sozioökonomisches Problem?

Andreas Heinz: Also die Gefahr psychischer Erkrankungen, zu denen leider häufig auch Suizidfolgen gehören, absolut! Sie können in jeder sozialen Stellung erkranken, aber man ist sehr viel bedrohter, wenn man arm ist.

Welche Beweggründe könnten eine türkischstämmige Frau dazu bringen, sich das Leben nehmen zu wollen?

Meryam Schouler-Ocak: Wir haben in sogenannten Fokusgruppen, das sind Diskussionsgruppen in unserem Forschungsprojekt, mit Frauen in verschiedenen Altersgruppen und auch mit Experten diskutiert. Jüngere Frauen haben ganz andere Beweggründe angegeben als Heiratsmigrantinnen oder ältere Frauen. Wir haben jetzt in einer Fokusgruppe mit türkischen Frauen, die einen Suizidversuch gemacht haben, häufiger gehört, dass die Partner sich deutsche Freundinnen gesucht haben und von den Ehefrauen erwartet haben, dass die treu bleiben.

Bei der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen, die Sie jetzt verstärkt mit Ihrer Kampagne ansprechen wollen, was sind da die Hauptgründe der Krise?

Meryam Schouler-Ocak: Verbote. Die Reglementierungen der Familie. Dass man zum Beispiel nicht rausgehen darf, dass man keinen Freund haben darf, dass man sich nicht so kleiden oder sich so entwickeln darf, wie man das möchte. Oder dass man jemanden heiraten soll, den man nicht möchte.

Auch in Südostanatolien gibt es sehr viele Selbstmorde. Aus den gleichen Verzweiflungen?

Meryam Schouler-Ocak: Es gibt eine Untersuchung von Professor Sayil aus dem Raum Ankara zur WHO-Multicenterstudie. Die Suzidraten in der Türkei sind niedriger als zum Beispiel in Deutschland. Aber in Südostanatolien ist die Rate wohl ziemlich hoch. Dort hat sich das Konzept von Ehre, Ruf, Scham so eng gehalten, dass sich die Frauen nicht rausbewegen können. Auch dort gibt es Ehrenmorde, Reglementierungen, Bestrafungen. Diese Mädchen haben keine Hilfsmöglichkeiten. Sie können sich nirgendwo hinwenden

Welche Rolle spielt die Religion. Suizid ist im Islam verboten.

Meryam Schouler-Ocak: Ich kenne das von traumatisierten Patienten oder von schwerstdepressiven Patienten aus meiner klinischen Arbeit. Zum Beispiel 1999 nach diesem großen Erdbeben bei Istanbul. Damals gab es viele schwersttraumatisierte Patienten: Sie hatten viele Angehörige verloren und waren akut suizidal. Da sagten viele, meine Religion erlaubt es mir nicht.

Haben die jungen Frauen, die hier aufgewachsen sind, diese religiöse Verbundenheit verloren?

Meryam Schouler-Ocak: Bei den jungen Frauen ist die peer group entscheidender, sie rückt die Religion in den Hintergrund.

Ist es wichtig, dass ein Therapeut den kulturellen Hintergrund eines Patienten versteht?

Andreas Heinz: Die Verhaltenstherapie, die sehr übend vorgeht, kann man leichter kulturell übertragen. Aber auch da kann man schnell auf Tabus stoßen. Wenn sie tiefenpsychologisch arbeiten, dann ist es wichtiger, dass man versteht, was in der Interaktion passiert. Man muss Therapeuten dafür sensibilisieren, dass sie auf kulturelle Unterschiede achten.

Gibt es einen Unterschied, wie sich eine Depression in Berlin äußert oder in Istanbul?

Meryam Schouler-Ocak: Die depressiven Symptome sind nach meiner Erfahrung sehr ähnlich. Hier vielleicht etwas intensiver vorgetragen, weil die betroffenen Frauen sich nicht ernst genommen fühlen, weil sie sich nicht verstanden fühlen. Es gibt auch lokaltypische Symptommuster in Bezug auf Depressionen oder andere Krankheitsbilder. Im türkischen Kontext redet man von "sikinti". Oft wird das mit Depressionen in Zusammenhang gebracht oder Langeweile, Engegefühl, Druckgefühl, Beklemmungsgefühle.

Andreas Heinz: Es gibt auch Organchiffren. Im Deutschen sagt man auch "Mir ist eine Laus über die Leber gelaufen". Ein Beispiel aus dem Türkischen ist: "Ich habe mir den Kopf erkältet" (Kafami üsüttüm). Das heißt nicht, dass man sich den Kopf erkältet hat, sondern "Ich drehe durch, ich werde verrückt". Und jetzt stellen Sie sich vor, eine im Wesentlichen türkischsprachige Frau kommt in eine nicht sprachkompetente Praxis und sagt: "Ich habe mir den Kopf erkältet."

Meryam Schouler-Ocak: Die Leute wissen oft nicht ihre Krankheit einzuschätzen, aber sie wissen auch nicht, welche Möglichkeiten, welche Beratungsstellen, Anlaufstellen existieren. Wir haben in unseren Fokusgruppen erfahren, dass sich Frauen, wenn überhaupt, an den Hausarzt wenden. Er ist quasi die Schlüsselfigur im System. Wir wollen nun für die Beratung gefährdeter Mädchen knapp 200 Multiplikatoren ausbilden: Erwachsene Frauen mit türkischem Migrationshintergrund und Mitarbeiter aus Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialpädagogik.

Es gibt prozentual sehr viel mehr türkischstämmige Bevölkerung als türkischstämmige Psychologen. Gibt es Ansätze, diese Lücke zu füllen?

Meryam Schouler-Ocak: In Berlin gibt es drei niedergelassene türkischsprachige Psychiater, die eine Zulassung haben, was die Psychotherapie angeht, aber die haben ganz begrenzte Möglichkeiten - und Sonderbedarfszulassungen sind nicht möglich. Nun wurde eine Petition eingebracht mit dem Ziel, dass mehr muttersprachlich therapeutisch arbeitende Kollegen und Kolleginnen im System zugelassen werden.

Haben Sie Rückmeldungen auf die letzte Woche in Berlin gestartete Kampagne?

Meryam Schouler-Ocak: Ja, es waren schon Anrufe da. Wir erheben seit April letzten Jahres in allen Rettungsstellen in Berlin und Hamburg die Zahlen zum Suizidversuch und haben gesehen, dass letztes Jahr vor den Sommerferien die Zahlen stiegen. Deswegen startet wir die Kampagne jetzt vor den Ferien. Die Ferienzeit ist angstmachend, weil man in die alte Heimat fährt, die Familien zusammenkommen. Dann wird geguckt und erzählt. Für junge Frauen ist das angstbesetzt.

Andreas Heinz: Ein bisschen wie bei uns an Weihnachten.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.