Gutachten und ihre Auslegung: Laufzeiten als Frage der Interpretation

Mit einem Gutachten soll die neue Energiepolitik begründet werden. Man merkte den Ministern Röttgen und Brüderle kaum an, dass sie über dieselbe Studie reden.

Sind sich nicht grün: Röttgen und Brüderle. Bild: apn

Der eine, Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), sagt es so: Atomkraft "hilft" dem Klimaschutz, weil weniger Treibhausgase in die Luft geblasen werden, und dem Verbraucher, weil der Strom billiger wird. Der andere, Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU), sagt es so: Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke machen "keinen substanziellen Unterschied", allenfalls gibt es "marginale Abweichungen" beim Strompreis und den Treibhausgasen.

Brüderle und Röttgen haben übers Wochenende die "Energieszenarien für ein Energiekonzept der Bundesregierung" studiert. Am Montagmittag stehen sie im Wirtschaftsministerium, bemüht, Eintracht zu vermitteln. "Wir haben eine gemeinsame Grundlage gefunden", sagt Röttgen. "Wir setzen nur leicht andere Akzente." Tatsächlich stehen da aber zwei Männer, die völlig uneins sind. Sie kämpfen um die Deutungshoheit über eine der wichtigsten Studien der Regierung. Die Energieszenarien sind Grundlage für ein nationales Energiekonzept, das Schwarz-Gelb Ende September verabschieden will und das bis zum Jahr 2050 tragen soll.

Neben Gesundheitsreform und Wehrpflicht ist die künftige Energieversorgung der zentrale Konflikt in der Regierung. Bisher ist nur so viel klar: Bis 2050 sollen die Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um 85 Prozent sinken. Im nächsten Monat will die Koalition entscheiden, wie lange dazu Atomreaktoren am Netz bleiben sollen, wie viele Windräder entstehen, wie viel in Energieeffizienz investiert wird. Das lang erwartete Gutachten sollte Klarheit schaffen. Doch stattdessen bringt es auf mehr als 200 Seiten einen Wust von Zahlen, schwer lesbare Datenkolonnen - und eine Menge Spielraum für Interpretationen.

Bestes Beispiel: Brüderle sieht als zentrales Resultat, dass sich bei Laufzeitverlängerungen von 12 bis 20 Jahren der größte volkswirtschaftliche Nutzen erzielen lässt. Bis 2030 könnten so beim Strompreis 8 Milliarden Euro eingespart werden. Bei Röttgen klingt das anders: Der kostendämpfende Effekt liege selbst im extremsten Fall - der höchsten Laufzeitverlängerung und den geringsten Sicherheitsvorgaben - nur bei 1,8 Cent pro Kilowattstunde und ist damit geringer als die Schwankungen der letzten zwei Jahre.

Neun verschiedene Szenarien haben die Gutachter im Auftrag der Bundesregierung berechnet: Laufzeitverlängerungen um 4, 12, 20 und 28 Jahre, und zwar jeweils einmal mit niedrigen Kosten für Sicherheitsnachrüstung (davon geht das Wirtschaftsministerium aus) und einmal mit höheren Nachrüstungskosten (davon geht das Umweltministerium aus).

Verglichen wurde dies mit einem Referenzszenario ohne Laufzeitverlängerungen. Allerdings werden in diesem eine viel geringere Steigerung der Energieeffizienz und ein langsamerer Ausbau der erneuerbaren Energien vorausgesetzt als in den Szenarien mit längeren Laufzeiten. Das Referenzszenario lässt sich darum nicht in einen Vergleich einbeziehen.

Die Gutachter ziehen Schlüsse über Strompreise, Treibhausgasemissionen und die Notwendigkeit von Stromimporten. Zwischen den Szenarien mit Laufzeitverlängerung sind die Unterschiede minimal: Die Strompreise pro Kilowattstunde variieren um den Bruchteil eines Cents, die Klimaziele werden in allen Varianten "erreicht oder leicht übererfüllt". Die Abhängigkeit von Importen ist bei längeren Laufzeiten stärker als bei kürzeren. Grund: Bleiben die Reaktoren länger am Netz, wird weniger in Energieeffizienz und Ökoenergien investiert. (taz)

Die Studie liegt Röttgen und Brüderle schon seit Freitag vor. Eigentlich hatten sie für drei Tage Stillschweigen über die Ergebnisse vereinbart. Doch Brüderle las schon früher "eine klar zweistellige Verlängerung" aus dem Gutachten heraus. Die rasche öffentliche Interpretation, wie viel länger als nach jetziger Rechtslage die Reaktoren laufen sollten, hat das Umweltministerium "nicht amüsiert", heißt es. Röttgen und Brüderle sind gespalten.

Dem Umweltminister dürfte da genauso wenig gepasst haben, dass am Sonntag erstmals auch Kanzlerin Angela Merkel Zahlen nannte: "Fachlich 10 bis 15 Jahre ist vernünftig". Dann würde es bis mindestens 2035 Atomstrom geben. Die Kanzlerin machte den Atomhardlinern in der Union eine Freude. Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) etwa lobte, es sei "die richtige Richtung".

Röttgen aber hatte bisher immer nur maximal acht Jahre genannt - mit gutem Grund: Längere Laufzeiten sind voraussichtlich nicht ohne Zustimmung des Bundesrats machbar. Das weiß auch die Kanzlerin. Am Montag stellte ihr Sprecher Steffen Seibert klar: "Sie müssen auch sehen, was die Kanzlerin hinterher gesagt hat." Es gehe nämlich auch um Sicherheit und darum, dass es rechtlich einwandfrei sei. Justiz- und Innenministerium prüfen derzeit, wie sie eine Änderung des Atomrechts formulieren können, ohne dass ein "Ja" der Länderkammer nötig wird.

Klar ist, dass sie das Gesetz splitten, die Laufzeiten gesondert von den Sicherheitsanforderungen beschließen wird. Für die Laufzeiten braucht es womöglich kein Ja der Länderkammer, für die Sicherheit schon. Diese würden die Länder aber wohl kaum verweigern, wenn die Laufzeiten schon verabschiedet sind. Die SPD und Rheinland-Pfalz wollen jedoch klagen, wenn der Bundesrat so übergangen wird. Mit der Atomdebatte geht die Regierung ein Risiko ein, und zwar nicht nur ein rechtliches.

Bundesumweltminister Norbert Röttgen hat am Montag selbst die Nachteile von Laufzeitverlängerungen aufgeworfen: Sie minderten den "Druck auf technologische Entwicklungen" - verzögerten etwa Investitionen in den für Ökoenergien notwendigen Ausbau der Stromleitungen. Als er das erklärt, war sein Wirtschaftskollege Brüderle schon nicht mehr da. Es wird Spannungen geben, bis Schwarz-Gelb sich einigt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.