Ein Spaziergangsforscher im Gespräch: „Ich gehe gerne auf Parkhäuser“

Bertram Weisshaar will die Umwelt bewusst machen, Merkwürdigkeiten entdecken und Landschaften sichtbar machen. „Eine ernste Angelegenheit.“

Bertram Weisshaar auf einem seiner Gänge durch die Natur. Bild: Stephan Cop

taz: Herr Weisshaar, werden Sie schief angeguckt, wenn Sie sich als Spaziergangsforscher vorstellen?

Bertram Weisshaar: Nee, wieso denn? Jeder kennt doch das Spazierengehen, egal welchen Beruf er ausübt oder aus welcher Bildungsschicht er kommt. Aber viele fragen mich in der Tat: Was ist das? Als Spaziergangsforscher wecke ich auf jeden Fall das Interesse der Menschen.

Spaziergangsforschung klingt arg nach Seminar und wenig nach Müßiggang.

Sie ist ja auch eine ernste Angelegenheit. Die Spaziergangwissenschaft oder Promenadologie entstand in den achtziger Jahren an der Gesamthochschule Kassel im Seminar des Schweizer Soziologen Lucius Burckhardt und war im Studiengang Stadt- und Landschaftsplanung angesiedelt.

Wie sind Sie zum Spaziergangsforscher geworden?

Durch zwei Begegnungen: zum einen der Spaziergang mit Lucius Burckhardt für Studienanfänger durch den Park Wilhelmshöhe in Kassel. In dieser wunderschönen Parklandschaft sagte Burckhardt: Landschaft gibt es gar nicht! Sie gibt es nur bei uns im Kopf. Das Bild der Landschaft ist eine kulturell geprägte Erfindung: der Wald mit Vögeln im Hintergrund, die Wiese mit Kuh im Vordergrund. Die Autobahn und der moderne Milchtanklaster gehören nicht dazu.

Und Ihre zweite Begegnung?

Das war Mitte der neunziger Jahre der stillgelegte Braunkohlentagebau bei Dessau. Dieser Ort wurde nicht als Landschaft erkannt, sondern nur als Landschaftszerstörung gesehen. Mich hat diese Landschaft aber elektrisiert, ich fand sie wunderschön.

Der studierte Landschaftsplaner und Fotograf arbeitet heute als Spaziergangsforscher.atelier-latent@de, www.spaziergangswissenschaft.de

Warum wunderschön?

Die besondere Vegetation, dort fängt die Evolution von null an. Die karge Erde, die dem Bild einer Wüste nahe kommt. Diese transitorische Landschaft, durch permanente Veränderung der Erosion und der Pflanzen geprägt, fordert unmittelbar unsere Fantasie heraus. Man weiß: So wie es ist, bleibt es nicht. Nur sehr wenige Landschaften sind derart bedeutungsoffen.

Was heißt das?

Normalerweise sind alle Orte mit Bedeutung festgeschrieben. Wir können uns den Wald nur als Wald denken, die Wiese ist die Wiese, der Parkplatz der Parkplatz. Wir kämen nicht auf die Idee, darüber nachzudenken, was sie noch sein könnten. Hier setzt die Spaziergangswissenschaft an. Sie will Umwelt bewusst machen, vom Sehen zum Erkennen gelangen, Landschaften sichtbar machen. Der französische Gartenarchitekt Bernard Lafuss sagt: Jede Gestaltung einer Landschaft birgt immer das Risiko, dass man eine Landschaft zerstört, die man noch nicht gesehen hat.

Was unterscheidet den Spaziergangsforscher vom Sonntagsspaziergänger?

Der Spaziergänger genügt sich selbst, er macht eine Pause vom Alltag. Für den Spaziergangsforscher geht es darum, etwas zu erfahren, das Beobachtete zu reflektieren, einzuordnen, zu vermitteln. Und Orte zu erkunden, wo man sonst nicht spazieren geht.

Wo zum Beispiel?

Ich gehe gerne auf Parkhäusern spazieren, weil man von dort schöne Ausblicke hat, oft sogar auf die historischen Altstädte. Traditionell ist der Wahrnehmungsmodus: Parkhäuser sind scheußlich, man will das Auto schnell loswerden, man guckt nicht nach links und rechts, weil es nichts zu sehen gibt. Seit einigen Jahren beobachte ich aber, dass Stadtstrände mit Palmen und Liegestühlen, die zunächst auf Baulücken entstanden sind, wegen der schönen Ausblicke zunehmend auf Parkdecks wandern, wie zum Beispiel in Frankfurt am Main, Braunschweig, Köln und Berlin.

Was ist denn der Unterschied, ob ich mit einem normalen Stadtführer gehe oder mit Ihnen eine Stadt erkunde?

Der klassische Stadtführer vermittelt historische Daten, zeigt die Sehenswürdigkeiten, Denkmäler und Bauwerke. Mir geht es aber vor allem um Merkwürdigkeiten oder Denkwürdigkeiten, um eine Auseinandersetzung mit der Stadtbaukultur, um ein räumliches Verständnis der Stadt. Dazu gehören auch unbekannte Orte wie Brachflächen. Bei einem Spaziergang waren einige Leipziger stinkig, weil sie meinten, ich wolle ihnen eine Dreckecke vorführen. Später erkannten sie, dass Brachen gar nicht schmuddelig sind, sondern ein ganz eigener Raum, den man auch ästhetisch erleben kann.

In Berlin führen Sie Gruppen nicht über die Flaniermeile der Friedrichstraße, sondern durch das verkehrsumtoste Autobahndreieck am Funkturm.

Wenn man hier zu Fuß unterwegs ist, erlebt man eine ganz andere Realität als im Auto, obwohl man konkret am selben Ort ist. Als Spaziergänger erleben wir die Gegend als Patchwork mit vielen Kontrasten und Überraschungen: Stillgelegter Autobahnzubringer, Golfplatz, Bahnbrache, Friedhof Grunewald. Zum Beispiel liegen 100 Nackte auf der FKK-Wiese am Halensee, direkt daneben staut sich der Verkehr auf der meistbefahrenen Autobahn Deutschlands, der A 100. Dieses Nebeneinander zu entdecken und zu begreifen, geht nur zu Fuß.

Wollen Sie mit Ihren Spaziergängen auch politisch etwas bewegen?

Es geht um eine kritische Auseinandersetzung mit der Realität - der Modernisierung der Städte und ihrer Herrichtung für den Autoverkehr - und das Aufzeigen von Alternativen. In den letzten dreißig Jahren hat sich der Pkw-Bestand in Deutschland verdoppelt. Aber wir leben heute nicht besser, also könnten wir den Bestand in den nächsten zwanzig Jahren wieder um die Hälfte zurückfahren und hätten wieder doppelt so viel Platz und freie Sicht in unseren Städten. Das wäre eine Befreiung wie damals, als die Stadtmauern und -befestigungen abgerissen wurden.

Wie wollen Sie diese Trendwende bewerkstelligen?

Zum Beispiel durch Car-Sharing, das zumindest in großen Städten gut funktioniert. Ein Car-Sharing-Fahrzeug ersetzt acht bis zwölf Autos. Bei einem Spaziergang in Frankfurt wurde dieses Umdenken sinnbildlich inszeniert: An einem Verkehrserziehungsgarten stand ein platt gedrücktes Schrottauto neben einem Car-Sharing-Fahrzeug.

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