Teilchenbeschleuniger am Cern: Blei-Beschuss für Antimaterie

Im Teilchenbeschleuniger am Cern experimentieren die Forscher jetzt mit Schwerionen aus Blei. Die Rahmenbedingungen geben Anlass zu Spekulationen.

Hier kollidieren künftig Blei-Ionen: Teilchenbeschleuniger am Cern. Bild: dpa

Die gute Nachricht zuerst - wir leben noch. Bevor nach langen Anlaufschwierigkeiten am 30. März 2010 im größten Teilchenbeschleuniger der Welt, am Cern, unweit des Genfer Sees Protonen mit einer Energie von jeweils 3,5 Tera-Elektronenvolt aufeinandertrafen, berichteten manche Boulevardmedien vom drohenden Weltuntergang. Der ist ausgeblieben.

Vor kurzem haben die Forscher am Cern neue Experimente begonnen. Sie haben ihre "Projektile" gewechselt. Jetzt lassen sie schwere Ionen aus Blei aufeinanderprallen. Bereits zuvor konnten sie mit den Wasserstoff-Versuchen ersten Erfolge verkünden. So ist ihnen gelungen Anti-Wasserstoff-Ionen zu erzeugen und für eine Fünftelsekunde zu stabilisieren. Lang genug, um die Antimaterie genauer zu untersuchen.

Bei diesen physikalischen Experimenten würden winzig kleine Schwarze Löcher entstehen, die unseren Planeten verschlucken könnten, prophezeiten seinerzeits die Weltuntergangs-Warner. Tatsächlich sind deren große Artgenossen, die weit weg im Universum ihr Unwesen treiben, verantwortlich für den Tod ganzer Sonnensysteme. Eine Übertragbarkeit jenes Geschehens auf das irdische physikalische Experiment hielten aber schon Anfang des Jahres fast alle Wissenschaftler für unmöglich.

Das Cern wurde 1954 als Europäische Kernforschungseinrichtung gegründet und hat inzwischen 20 Mitgliedsstaaten. Im Jahr 2009 hatte es ein Budget von 724 Millionen Euro zur Verfügung. Größtes Geberland war die Bundesrepublik Deutschland mit 144 Millionen Euro. Das Cern untersteht keiner nationalen Gerichtsbarkeit, weil es ähnlich der UNO eine zwischenstaatliche Organisation ist.

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Der Large Hadron Collider kostete über 3 Milliarden Euro. Er verbraucht mit jährlich 700 Gigawattstunden etwa halb so viel Strom wie der gesamte Kanton Genf.

Das Cern, die europäische Organisation für Kernforschung, die ihren Sitz im Schweizer Kanton Genf hat und das Experiment durchführt, gab eine Expertise in Auftrag. Die über hundert Seiten starke Veröffentlichung, von den renommiertesten Teilchenphysikern der Welt verfasst, erklärte der Öffentlichkeit die Ungefährlichkeit der künstlichen Protonenkollision. Ihr Resümee klingt einleuchtend. In der Natur fänden ständig die gleichen Phänomene statt, ohne dass es zu gefährlichen Entwicklungen käme.

Die Rahmenbedingungen allerdings für dieses aufsehenerregende Experiment geben Anlass zu Spekulationen. Der Teilchenbeschleuniger Large Hadron Collider (LHC) befindet sich bis zu 140 Meter tief unter der Erde. Der ringförmige Tunnel, der mit Elektromagneten und Kühlsystemen gefüllt ist, hat eine Länge von knapp 27 Kilometern. Die Teilchen, die aufeinanderprallen, werden zuvor fast bis zur Lichtgeschwindigkeit beschleunigt.

Beim Aufprall entstehen winzige Feuerbälle, die eine Temperatur von 10 Billionen Grad Celsius haben. Somit sind diese Punkte, die kleiner als ein Atom sind, etwa 1 Million Mal heißer als unsere Sonne. Verschiedene haushohe Detektoren, die in riesigen Kavernen am Tunnel installiert sind, messen die unterschiedlichen Zerfallsprodukte. Die gewonnenen Erkenntnisse werden von tausenden von Forschern auf der ganzen Welt ausgewertet.

Insgesamt über 8.000 Gastwissenschaftler aus 85 Nationen arbeiten an Cern-Experimenten. Einer davon ist Wolfgang Wagner, Professor an der Bergischen Universität Wuppertal. Der Teilchenphysiker hofft, das Verständnis davon, was die Welt zusammenhält, radikal verändern zu können.

Wenn er von seinem Arbeitsgebiet erzählt, wird es für Laien schnell kompliziert. Neutronen, Protonen und Elektronen, so lernten noch vor 40 Jahren Kinder in der Schule, seien die kleinsten Bausteine, aus denen alle Atome und somit das gesamte Universum zusammengesetzt sei. Schon zu jener Zeit allerdings wurde die Existenz noch kleinerer Bausteine, sogenannter Quarks, bewiesen.

Inzwischen unterscheidet man sechs verschiedene Quarks, deren Namen sich tatsächlich vom deutschen Wort für ein Molkereiprodukt ableitet. Up- und Down-Quarks wurden als Erste gefunden, später gesellten sich Strange-, Charme-, Bottom- und Top-Quarks hinzu. Wagner nun möchte zusammen mit seinen Kollegen mehr über diese Teilchen erfahren. Denn trotz aller Forschung kann die Physik nicht abschließend erklären, wie die Masse der Materie zustande kommt.

"Wenn sich ein Mensch, der 100 Kilogramm schwer ist, auf eine Waage stellt, verstehen wir 98 Kilogramm. 2 Kilogramm können wir zurzeit nicht erklären", so Wagner. Seit Ende 2009 werden am LHC Protonen aufeinandergeschossen, um die Frage nach der Masse der Elementarteilchen zu klären. "100 Milliarden Mal müssen wir dieses Experiment wiederholen, bis etwas Neues passiert", berichtet der Forscher aus Wuppertal.

Bislang geht die Physik davon aus, dass es ein sogenanntes Higgs-Teilchen geben muss, das für das Gewicht der Elementarteilchen sorgt. Der Nobelpreisträger Leon Lederman aus den USA nannte es auch Gott-Teilchen, weil er glaubte, darin die Existenz Gottes physikalisch nachweisen zu können. Wolfgang Wagner lehnt diesen Begriff ab, ist aber gespannt, mehr über das letztlich unbekannte Teilchen zu erfahren. "Neue Erkenntnisse könnten das Bild, das wir von aller Existenz haben, revolutionieren."

Auch Rolf-Dieter Heuer glaubt, dass das Mysterium des Higgs-Teilchens durch den LHC gelüftet werden kann. Der Generaldirektor des Cern geht allerdings von Jahren aus, bis Ergebnisse auf diesem Gebiet vorliegen. Er vergleicht die Arbeit am Cern mit der Beobachtung einer Wiese. "Wir sehen alle das gleiche Objekt, suchen aber nach unterschiedlichen Phänomenen."

Manche Wissenschaftler würden, in der Metapher bleibend, nach Glockenblumen suchen, andere nach vier- oder gar fünfblättrigem Klee. Ein vierblättriges Kleeblatt wäre das Higgs-Teilchen. Insgesamt verteidigt Cern-Direktor Heuer den immensen Forschungsaufwand, der am Cern betrieben wird. "Wenn man weiter nur Kerzen beobachtet hätte, wäre es nie zur Entwicklung der elektrischen Glühbirne gekommen."

Er plädiert für eine zwar zielorientierte, aber freie Forschung. Gefahren sieht er nicht. Zu dem prominentesten und härtesten Kritiker des Cern, dem Chaosforscher Otto E. Rössler, möchte er sich nicht äußern. Der von vielen Wissenschaftlern als Scharlatan gescholtene ehemalige Dozent der Uni Tübingen hat auch neun Monate nach Beginn der Experimente eine ganz andere Sicht der Dinge: "In fünf Jahren wird die Erde einen Durchmesser von zwei Zentimetern haben." Kritiker des Kritikers allerdings sagen: "Herr Rössler hat noch nicht einmal die Relativitätstheorie richtig verstanden."

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