Science Center in Wolfsburg: Das Phaeno als Balanceakt

Fünf Jahre nach seiner Inbetriebnahme zeigt die weltberühmte Architektur des "Phaeno" gewisse Schwächen, vor allem in Sachen Dichtigkeit. Aber die Experimente in seinem Inneren gehören zum Besten, was deutsche Science Center derzeit zu bieten haben.

"Faustkeil des Zyklopen", wie die FAZ meint, oder Raumschiffbug? Das Wolfsburger "Phaeno" ist ebenso vieldeutig wie vielbesucht. Bild: Klemens Ortmeyer

Vorhersagen von Besucherzahlen sind stets mit Vorsicht zu genießen - besonders, wenn sie Finanzmittel für neue Attraktionen flüssig machen sollen. Das Wolfsburger Phaeno ist ein Gegenbeispiel: Nach nunmehr fünfjährigem Betrieb kann das Science Center auf konstant 240.000 BesucherInnen pro Jahr verweisen. Am Anfang kamen sogar 300.000 - prognostiziert war ein Drittel weniger.

Der Bau sei "eine der mutigsten Entscheidungen in der Geschichte der Stadt", sagt Wolfsburgs Oberbürgermeister Rolf Schnellecke. Was angesichts der Übersichtlichkeit dieser Geschichte bestimmt nicht übertrieben ist: Wolfsburg ist gerade mal 72 Jahre alt. 1938 wurde es als "Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben" gegründet, um Wohnraum für die Mitarbeiter des Volkswagenwerks zu schaffen. Urbanität entsteht anders.

Die Wolfsburger sehen ihr Raumschiff-förmiges Phaeno als Antwort auf die gegenüber liegende Autostadt, mit der sich VW als Event-Factory präsentiert. Es ist bemerkenswert, dass das Phaeno tatsächlich von der Stadt gebaut wurde, die auch maßgeblich an der Betreiberstiftung beteiligt ist - und nicht von VW. In einer Stadt, die zur Weihnachtszeit ihre Fabrik-Schornsteine anleuchtet und in der sogar die Fußgängerzone Porschestraße heißt, ist das nicht selbstverständlich. Die kulinarischen Maßstäbe werden von der Werkskantine gesetzt, als regionales Highlight gilt die VW-Currywurst mit warmer Sauce.

Beim Phaeno hingegen hat Wolfsburg richtig geklotzt. Zwar kostete der von der Welt zunächst als "Betonklunker" geschmähte Bau von Zaha Hadid mit 61 Millionen Euro deutlich mehr als eingeplant - hier hätte das Einhalten der Prognose schon Sinn ergeben. Dafür nahm der Londoner Guardian das Phaeno in die Liste der "zwölf bedeutendsten Bauwerke der Moderne" auf. Wobei man nicht vergessen darf, dass die Zeitung in der selben Stadt erscheint, in der Hadids Architekturbüro sitzt - auch so etwas kann den weltweiten Wahrnehmungsfokus durchaus beeinflussen. Doch mittlerweile dichtet auch die Welt wie im Delirium: "Dieses Gebäude macht betrunken ohne Alkohol".

Dabei denkt sie vermutlich an die samt und sonders schräg stehenden Wände und Schiebetüren, die den James Bond-Style des Gebäudes prägen. Auch die kursiven Sichtschlitze beziehungsweise Wabenfenster passen perfekt zum 60er Jahre-Futurismus des Phaeno - nicht umsonst durfte es gerade im Tom Tykwer-Thriller "The International" als Zentrale eines fiktiven Rüstungskonzerns mitspielen.

Zum fünften Geburtstag hat Oberbürgermeister Schnellecke (CDU) dem Phaeno einen neuen Platz spendiert. Schnellecke hat sonst Unerfreuliches um die Ohren, vor allem seit sich der frühere Stadtwerkesprecher selbst bezichtigte, im Dienst Wahlkampf für die CDU gemacht zu haben. Heute jedoch kann Schnellecke seine Sorgen auf drohende Kaugummiflecken kaprizieren: Die "jungen Herrschaften" sollen den Platz doch bitte reinlich halten.

Hell strahlt die große, zuvor recht düster anmutende Fläche, im Frühling sollen Sitz- und Pflanzeninseln hinzu kommen. Allerdings ging es bei der Neugestaltung nicht nur um Ästhetik, sondern um einen eklatanten Materialmangel: Der erstmals beim Phaeno verwendete "selbst verdichtende" Beton ist nicht nur extrem dünnflüssig, was besondere Formen ermöglicht, sondern partiell auch wasserdurchlässig: Von der Decke der unter dem Phaeno gelegenen Tiefgarage tropfte es.

Wer dafür aufzukommen hat, Architekturbüro oder ausführende Baufirmen, wird noch vor Gericht geklärt. Ein Verlierer jedoch steht bereits fest: Die Skater. Für sie und die jugendlichen BMX-Akrobaten sind die geschwungene Formen von Platz und Gebäude, die Bodenwellen und organisch hochgezogenen Ränder ideal zum Rutschen und Rollen. Und das sogar im Trockenen: Unter seinem Betonbauch birgt das auf klobigen Stelzen errichtete Phaeno wunderbar höhlenartige Räume. Nun aber ist alles mit einer Art Anti-Inliner-Granulat bedeckt, das die ExpertInnen in angewandter Bewegungsphysik gnadenlos ausbremst. Auch die Phaeno-Putzkräfte haben sich bereits böse geschürft, als sie über blockierende Räder ihrer Reinigungswägelchen stolperten.

Mit dieser Provinzposse hat das Phaeno "eine Riesenchance" verpasst - meint zumindest der Skater, der frustriert vor dem Bahnhof seine Bahnen zieht. "Mit einem gescheiten Belag wären Leute aus ganz Europa gekommen", ist er sicher. Das klingt nur dann vermessen, wenn man nicht weiß, dass in Wolfsburg ohnehin die größte Skateboard Funbox Europas steht.

Im Inneren des Phaeno hingegen sind der Experimentierlust kaum Grenzen gesetzt. Unter Europas größter frei tragender Stahldecke - das kleine Wolfsburg bringt es auf eine beachtliche Zahl internationaler Superlative - kann man Töne sichtbar machen, eine DNA analysieren, Schwerelosigkeit erleben oder anhand elektromagnetisch erzeugter Lassowürfe den "Flug in Parallelbahnen" zu verstehen versuchen. Mit mittlerweile rund 350 Exponaten auf 9.000 Quadratmetern hat sich das Phaeno zu Deutschlands größtem Science Center gemausert. Damit stellt es beispielsweise das Bremer "Universum" nicht nur quantitativ, sondern auch inhaltlich in den Schatten - was angesichts der auch in Bremen vorhandenen Qualität Einiges heißt.

Die Wolfsburger punkten sowohl lokal als auch international: Mit Joe Ansel vom "Exploratorium" in San Francisco, das 1969 als weltweit erstes interaktives Wissenschaftsmuseum eröffnet wurde, haben sie einen Guru der Science Center-Wesens als Chefausstatter engagiert. Zum anderen setzen sie, anders als die touristischer orientierten "Universum"-Macher, konsequent auf die Verankerung der Phaeno-Angebote in der regionalen Bildungslandschaft. Eine Lehrerdatenbank macht es PädagogInnen leicht, den Besuch ausgewählter Phaeno-Stationen passgenau in ihren Unterricht einzubauen. Mittlerweile sind auch die niedersächsischen Lehrpläne entsprechend verlinkt. Wie aber wird aus dem Phaeno-Slogan "Da staunst du" konkretes Verstehen?

Die große transparente Halbkugel im Eingangsbereich beispielsweise funktioniert zunächst als große Murmelbahn. Kugeln sausen abwärts durch ein Rohr, an dessen gebogenem Ende werden sie waagerecht umgeleitet - und lassen das Rohr dadurch rotieren. Das sieht schick aus und klimpert schön. Wer aber wissen will, dass damit das Prinzip des Raketenantriebs, mithin das dritte Newtonsche Axiom demonstriert wird, muss entweder das Kleingedruckte lesen - oder Wolfram Oeler treffen.

Der frühere Wolfsburger Schuldezernent widmet sich trotz seiner Pensionierung weiterhin dem Phaeno, mit spürbarer Begeisterung koordiniert er dessen Kontakte zu den Schulen. Oeler ist überzeugter Anhänger des selbstständigen, des "forschenden Lernens" in allen sieben naturwissenschaftlichen Themengebieten des Phaeno - die von Mädchen und Jungs übrigens im gleichen Umfang frequentiert werden. Der Unterschied sei nur, sagt Oeler, dass sich Letztere oft damit zufrieden geben, an jeder Station mal den Knopf gedrückt zu haben. Ganz anders der Achtjährige, den er kürzlich beobachtete: "Der kam viele Tage hintereinander zur selben Station, ich habe mich tunlichst zurück gehalten, ihm etwas zu erklären." Irgendwann habe der Junge gesagt: "Jetzt hab ich's verstanden." Oeler strahlt: "Das war eine Sternstunde."

Solche Erkenntniskarrieren ermöglicht das Phaeno nicht zuletzt durch eine kluge Preispolitik: Beim ersten Eintritt zahlen Klassen sechs Euro pro Schüler, beim zweiten nur noch drei. Eine Jahreskarte für Kinder und Jugendliche kostet ohnehin nur 12 Euro. Beste Voraussetzungen also, um aus Einzelevents Mehrfach-Erfahrungen zu machen.

Das Phaeno meistert die Balance zwischen Image- und Bildungsprojekt geradezu vorbildlich. Spannend bleibt die Frage, ob der neue Beton ebenso konsistent ist. Aber auch unfreiwillige Versuchsanordnungen gehören zum Charme des Phaeno.

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