Prozess gegen Pharmakonzern: Schmerzen verjähren nicht

Ein 34-Jähriger lebt seit seiner Geburt mit schweren Missbildungen. Schuld soll das Medikament Duogynon sein. Überprüft werden darf der Verdacht vorerst nicht.

Klage abgewiesen: Bayer Schering muss vorerst keine Einsicht in die Duogynon-Akten gewähren. Bild: dpa

BERLIN taz | Ein künstlicher Harnausgang verjährt nicht. Das hatte der 34 Jahre alte Kläger André Sommer aus Bayern zum Auftakt seines Zivilprozesses gegen den Berliner Pharmakonzern Bayer Schering vor dem Landgericht Berlin Ende November gesagt. Jetzt, eineinhalb Monate später, ist klar: Sommer, der 1976 mit schweren Missbildungen auf die Welt gekommen ist und für seine Behinderungen das Schering-Hormonpräparat Duogynon verantwortlich macht, wird noch einige Jahre und die Hilfe weiterer Gerichte benötigen, um seinen schweren Verdacht gegen den Berliner Pharmahersteller überprüfen zu können.

Das Landgericht Berlin wies am Dienstag seine Klage auf Akteneinsicht in die Archive von Bayer Schering in erster Instanz ab. Begründung: Sämtliche Ansprüche auf Entschädigung seien verjährt. Sommers Mutter habe das Medikament Duogynon, auf das Sommer die Schädigungen zurückführt, in der Frühschwangerschaft eingenommen. Das sei 35 Jahre her. Der bayerische Grundschullehrer André Sommer will aber keine Entschädigung, sondern zunächst nur Auskunft: Ab wann wusste Schering von den fruchtschädigenden Wirkungen des hormonellen Schwangerschaftstests Duogynon? Und warum ließ Schering das Medikament trotzdem bis 1980 auf dem Markt?

Sommers Anwalt Jörg Heynemann kündigte an, Berufung einzulegen. Bayer Schering habe die Aufklärung über die fruchtschädigenden Nebenwirkungen von Duogynon über Jahre behindert. Insofern sei die nun vom Hersteller vorgebrachte Verjährungsargumentation, der das Gericht gefolgt sei, "sittenwidrig". Im Übrigen habe bereits der Bundesgerichtshof in einem ähnlich gelagerten Fall entschieden, dass für die Verjährung nach dem Arzneimittelgesetz der jeweilige Schadenseintritt maßgeblich sei. Sommer leide unter einem fortwährenden Schadenseintritt: Alle paar Jahre muss er wegen seines Urin-Stomas erneut operiert werden.

Die Urteilsverkündung wurde von zahlreichen Betroffenen und deren Angehörigen verfolgt. Auch die Sängerin Nina Hagen kam, um den Geschädigten ihre Anteilnahme auszusprechen. In den 60er und 70er Jahren hatten viele Mütter, deren Kinder mit schweren Fehlbildungen wie Wasserkopf, offenem Bauch, offenem Rücken oder Missbildungen der inneren Organe und Extremitäten geboren wurden, in der Frühschwangerschaft Duogynon von ihren Frauenärzten verordnet bekommen. Das Hormonpräparat wurde als Dragee und als Injektion als Schwangerschaftstest verschrieben sowie zur Behandlung von Menstruationsbeschwerden. Erst 1980 wurde es in Deutschland nach Protesten vom Markt genommen. Strafrechtliche Ermittlungen gegen Schering scheiterten in den 80ern an der damaligen Gesetzeslage. Schätzungen zufolge leben in Deutschland mehr als 1.000 Duogynon-Geschädigte.

Der 34-jährige Grundschullehrer André Sommer erschien am Dienstag mit Rücksicht auf seine Schüler nicht persönlich vor Gericht. Aber vielleicht war das auch besser so. Vielleicht wäre er sonst zufällig auf die Idee gekommen, sich den Aufenthalt in Berlin mit einem touristischen Abstecher ins Deutsche Technikmuseum zu verderben. Dort ist derzeit eine Ausstellung zur Chemie- und Pharmaindustrie namens "Pillen und Pipetten" zu sehen; konzipieren durfte die Exposition unter anderem die Schering Stiftung, die Objekte stammen aus dem Schering-eigenen Museum Scheringianum. Im Schaukasten "Hormongewinnung gestern und heute" findet sich auch eine alte Schachtel Duogynon, "2 Ampullen in öliger Lösung zur intramuskulären Injektion", daneben der Hinweis: "Das Hormonpräparat stand in Verdacht, gravierende Missbildungen bei ungeborenen Kindern zu verursachen. Untersuchungen (…) zur Aufklärung möglicher Ursachen konnten einen Zusammenhang (…) nicht nachweisen. Alle anhängigen Verfahren wurden eingestellt."

Alle? Den aktuellen Prozess haben die Ausstellungsmacher sicher bloß übersehen.

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