Katastrophenfilmer im Ruhrgebiet: Ein Leben auf der Überholspur

Wolfgang Wiebold filmt, wo andere wegsehen. Das Ein-Mann-Kamerateam rast durchs Ruhrgebiet: von Unglück zu Unglück. Sein Mittel gegen die Bilder im Kopf: "Keine Ruhe".

Dort filmen, wo andere wegsehen: "Wenn ich filme, denke ich nur an die Bilder." Bild: dpa

Duisburg im Sommer 1956. In einem kleinen Waldstück, ganz in der Nähe seines Elternhauses, spielt ein Junge mit seinen Freunden Verstecken. Er will sich hinter einem Baum verkriechen, da sieht er einen Menschen, nicht weit entfernt, reglos auf dem Rücken liegen. Neugierig schleicht er sich an. Es ist ein Mann. Doch dann schnürt sich dem Kind die Kehle zu, der Mund wird trocken, das Herz rast. Ein Toter! Leere Augenhöhlen starren den kleinen Jungen an. Der heißt Wolfgang Wiebold und ist fünf Jahre alt. Später wird er sagen, dass hier alles seinen Anfang genommen hat.

Essen, knapp 55 Jahre später. Sein Gesicht ist so grau wie der Himmel überm Pott. Wolfgang Wiebold sitzt vor seinem Rechner, starrt auf die bewegten Bilder. Wie so oft an diesem Morgen greift seine Hand zur Zigarettenschachtel, das Feuerzeug klickt. Hastig saugt er das Nikotin ein. Immer wieder steht er auf, holt Kaffee. Seit Tagen hat er nicht mehr richtig geschlafen. Seit Stunden wartet er. Auf einen Verkehrsunfall, einen Wohnungsbrand - irgendein Unglück anderer Menschen. Aber es ist ruhig im Revier, "beschissen ruhig".

Für einen wie Wolfgang Wiebold gibt es viele Namen: Katastrophenfilmer oder Nachrichtenjäger nennt ihn, wer ihn mag. Bluthund, Leichenfledderer, sagen die anderen. Wiebolds Leben - das sind Unfälle, Brände, Morde. Wann immer im Ruhrgebiet etwas passiert, er ist da.

Zum Beispiel im letzten Sommer, in Duisburg, als bei der Loveparade eine Panik ausbrach und 21 Menschen starben. Da war Wiebold mal wieder der Erste, der Bilder lieferte. Er verkauft sie an RTL, WDR, manchmal auch an die "Tagesschau". Zwischen 300 und 700 Euro verdient er pro angefangener Sendeminute. Doch es geht ihm nicht ums Geld. Wolfgang Wiebold, 59, ist süchtig. Nach dem Adrenalinkick, wenn er es mal wieder geschafft hat, der Erste am Unfallort zu sein.

Der Anruf kommt kurz vor 14 Uhr. "Verkehrsunfall in der Innenstadt", meldet eine Stimme am Telefon. "Ein Lkw hat beim Abbiegen einen Fahrradfahrer erwischt." Die Stimme gehört zu einem der zahllosen Informanten, die Wiebold aus allen Winkeln des Ruhrgebiets Neuigkeiten zutragen.

"Isser tot?", fragt Wiebold. Seine Stimme klingt gehetzt, von der Antwort hängt alles ab. Denn wenn es keinen Toten gibt, will es keiner haben. "Ja, der ist ex." Zwei Minuten später sitzt Wiebold in seinem Audi A4, heizt durch die Innenstadt. Wiebold lenkt mit den Knien. In jeder Hand hält er ein Handy, führt die ersten Verkaufsgespräche mit Fernsehredaktionen. Jetzt kommt es auf jede Sekunde an.

Schnell, schnell, schnell ist Wiebolds Welt, in der nur eines zählt: der Erste sein. Er muss schneller sein als die Konkurrenz, die in den letzten Jahren immer stärker wurde. Noch ist er der Beste im Geschäft, weil er hartnäckiger ist als alle anderen und weil er sich einen Dreck schert um das, was erlaubt ist. Dennoch, das Geschäft wird härter. "Da draußen herrscht Krieg", sagt Wiebold. "Alleine kannste das gar nicht mehr schaffen."

Vor 20 Jahren war Wiebold noch ein Unikat, der Erste seiner Art. Damals beim Geiseldrama von Gladbeck 1988 kam sein Durchbruch. Seitdem gibt es sie, die sogenannten Ein-Mann-Kamerateams, die auch da noch filmen, wo andere wegsehen.

Heute beschäftigt Wiebold zwölf freie Mitarbeiter. Alles Ungelernte, die früher bei Sicherheitsfirmen Dienst schoben. Wiebold hat sie ausgebildet und ihnen, wenn nötig, ein Auto besorgt. Gelernte Kameramänner wären ihm zwar lieber, aber die wollen pünktlich Feierabend machen. Doch geregelte Arbeitszeiten gibt es bei Wiebold nicht. Er selbst arbeitet sieben Tage die Woche, 52 Wochen im Jahr. Den Preis dafür hat er bezahlt. Die Ehefrau lief ihm davon, Freunde hat Wiebold kaum.

Wiebold ist am Unfallort, nimmt die Kamera auf seine Schulter: Ein Zoom auf die blutbespritzten Teile des Fahrrads, ein kurzer Schwenk über die Leiche, dann noch einmal die Totale. Emotionslos, präzise, routiniert filmt Wiebold die Leiche. Seine Kamera erfasst alles, sieht alles - Wiebold selbst bleibt blind. Er weiß nicht, wer der Tote ist. Es interessiert ihn auch nicht. "Wenn ich filme, denke ich nur an die Bilder." Die hat er nach ein paar Minuten im Kasten, handwerklich perfekt. Nach dreißig Jahren im Geschäft gibt es keine Wackler mehr, keinen verpatzten Zoom.

Egal welche Grausamkeit durch seine Linse geht - Wiebold bleibt standhaft. Die Füße zusammengeschlagen, die Arme eng am Körper. Früher war das anders, sagt er und zeigt auf seine Narbe direkt über der linken Augenbraue. Da sei er öfters mal umgekippt.

Das erste Mal war in seiner Anfangszeit, als er noch als Fotograf für die Westdeutsche Allgemeine unterwegs war. Am Freitagnachmittag kam die Meldung rein, Verkehrsunfall mit Motorradfahrer. Wie so oft war Wiebold einer der Letzten im Büro und der Erste am Unfallort. Ein aufgeplatzter Schädel an der Bordsteinkante - das war damals zu viel für ihn. "Wenn du das erste Mal siehst, wie sich Blaulicht im Blut spiegelt, dann …" Was dann? Wiebold beendet den Satz nicht. Er verdrängt die Bilder, will sich die Toten nicht ins Bewusstsein rufen. Wiebold hat ein Mittel dagegen: "Nicht zur Ruhe kommen, sonst wird's gefährlich."

Eine Stunde später ist Wiebold wieder in seinem Studio, für ihn sein wahres Zuhause. In Akkordzeit schneidet er das Material von heute, stellt Bilder auf seine Internetseite. Für die TV-Sender, die wissen wollen, was er liefern kann. "Scheiße, das gibt es doch nicht!" Der Server ist wieder zu langsam. Knappe dreißig Sekunden dauert es, bis ein Bild hochgeladen wird. Als das Material eingespielt ist, nimmt er seine Lederjacke. Für heute hat er genug vom Studio, genug vom Warten. Für ein paar Stunden fährt Wiebold in seine Wohnung um die Ecke, in der er schon zehn Jahre wohnt und die er schon genauso lange renovieren will.

Wiebolds Verlust

Was macht einer wie er, wenn er zu Hause ist? "Fernsehgucken." Ist das nicht einsam? "Wieso?", fragt Wiebold zurück. Immer wenn er den Fernseher anschaltet, sieht er Frank Plasberg, Tom Buhrow und all die anderen, mit denen er vor tausend Jahren angefangen hat und die einen so ganz anderen Weg eingeschlagen haben als Wiebold.

Im Türrahmen seines Studios bleibt er noch einmal stehen. Hat er auch alles? Sein Blick streift kurz die Pinnwand direkt neben der Eingangstür, an der Erinnerungszettel und bunte Postkarten hängen. Dazwischen ein graues Din-A4-Blatt: Wolfgang Lippe 6. 1. 1949 bis 12. 03. 2005. Es ist schwer, einen geliebten Menschen zu verlieren. Wir danken für Eure Anteilnahme und Mitgefühl. Wer war Wolfgang Lippe? "Ach, frag mich nicht so was!"

Wiebold, der gerade noch hoch aufgerichtet sein Studio überblickt hat, sackt kurz in sich zusammen. Lippe war ein Bekannter, einer der vielen, die mal für ihn gearbeitet haben. Dann holte ihn der Krebs. "Das ging ganz schnell …" Wiebolds Stimme zittert tatsächlich. Da an der Pinnwand wird er plötzlich echt. Der Tod. Der Verlust eines Menschen. Wiebolds Verlust.

Anderntags quält sich Wiebold durch den Straßenverkehr und schimpft laut vor sich hin. Bei einem Unfallort hatte er Streit mit einem Kollegen. "Der Idiot stellt sich einfach vor meine Kamera, und dann muss der Beamte sich auch noch einmischen!" Ein Polizist hat Wiebold vom Unfallort entfernt, weil er es pietätlos fand, dass zwei Kameramänner sich um einen Sterbenden streiten. Wiebold kann das nicht verstehen. Mit krächzender Stimme schreit er: "Ich werde gemobbt!" Er fährt sich mit der flachen Hand übers Gesicht, zündet eine Zigarette an. Er wirkt müde, zermürbt. Erst als er die Abfahrt nach Duisburg nimmt, entspannen sich seine Gesichtszüge, hier ist er aufgewachsen. Er fährt oft ziellos durch die Gegend, das beruhigt ihn.

Wiebold plaudert. Da vorne ist er zur Schule gegangen, da hinten war sein Frisör. Manchmal geraten ihm die Erinnerungen durcheinander. Dann sagt er zum Beispiel: "Hier hat es einen Wohnungsbrand mit fünf Leichen gegeben, und dort an der Ecke habe ich mir immer eine Wundertüte geholt." Doch meistens erzählt Wiebold von ganz früher, als er noch jung war. Einer Zeit, in der er von einer Sportlerkarriere träumte. Mit 17 hat Wiebold die 800-Meter-Staffel in 1,845 Sekunden genommen. Einen Tag vor dem entscheidenden Wettkampf verletzte er sich am Fuß. "Vielleicht", sagt Wiebold, "sollte es so kommen."

Der Satz hallt noch im Ohr, als Wiebold abrupt anhält und auf ein verwildertes Waldstück zeigt. Hier, genau hier ist es gewesen. Hier war der Ort, an dem er fünfjährig die Leiche eines Mannes fand. Vielleicht sollte auch das so kommen. "Manchmal glaube ich, es verfolgt mich", sagt Wiebold. Dann wendet er.

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