"Chew" – das Comic zum Dioxinskandal: Allein gegen die Hähnchenmafia

Der verbissene Cop Tony Chu kann die Herkunft von Essen am Geschmack erkennen. Im makabren Comic "Chew" macht er so Karriere bei der Lebensmittelaufsicht.

Dagegen ist Synästhethesie ein Kindergeburtstag: Chu schmeckt die Vergangenheit. Bild: cross cult

Mit dem Dioxinskandal stellt sich wieder einmal die Frage, wie es um unsere Nahrung bestellt ist. Dass verseuchte Bestände in einem rigorosen Preiswettbewerb vertuscht werden, ist wenig überraschend. Die meisten wissen, dass sie solche Mechanismen durch die eigene Esskultur forcieren. Für Geschmackstelepathen wie Tony Chu, die Hauptfigur der Comicserie "Chew", dessen erster Band "Leichenschmaus" nun auf deutsch erschienen ist, gibt es allerdings kein Verdrängen. Er ist in der unangenehmen Lage, dass ihm der Gaumen Visionen von der Herkunft des Essens beschert. Beißt er in einen Apfel, schmeckt er bildlich, welches Pestizid an der Schale klebt.

Der Spaß bei der Lektüre von "Chew" besteht darin, sich dem Ekel der Sache zu stellen. Die Bilder triefen vor ranzigem Fett und abscheulich schleimigen Flüssigkeitsfäden. Der Sehsinn muss ausbaden, was der Gaumen schmeckt. Ein Missverhältnis, das sich bei den Körpern fortsetzt: Krankhaft geblähte Bäuche stecken auf staksigen Beinen. Der Anblick erweckt den Eindruck, als ob das Fleisch der Figuren auf bizarren Klötzchen ruhen würde. Auch die Farben wirken angekränkelt. Das Licht in der Welt von "Chew" ist ebenso fahl wie die Haut der Menschen. Ihre gräuliche bis gelbliche Blässe sticht gegen das grelle Grün oder Rot unappetitlicher Details ab.

Das einzigartige Talent Tony Chus als "Cibopath", so die Comicstory, hat ihm als verbissenem Polizisten eine Karriere in der amerikanischen Lebensmittelaufsicht FDA eingebracht. Die FDA ist zur größten und mächtigsten Organisation zur Verbrechensbekämpfung herangewachsen, seit 23 Millionen Menschen allein in den USA an einer Abart der Vogelgrippe gestorben sind. Seither ist auch der Verzehr von Geflügel verboten. Doch die "Hähnchenprohibition" führt zu Hähnchenschmuggel und illegalen Bratbuden. Tony Chu steht also im Dienst gegen die Verbrechen der Hähnchenmafia.

Wenn der Autor von "Chew", John Layman, die Figur Tony mit einem Wort beschreiben müsste, wäre es "wütend". Wie er zu dem schrägen Szenario kam, erklärt Layman auf taz-Nachfrage so: "Ich überlegte mir, was die George-W.-Bush-Regierung wohl bei einer Epidemie wie der Vogelgrippe tun würde. Da fiel mir eine totalitäre Regierung ein, die Hähnchen verbietet." Layman wollte damit kein direkt politisches Buch machen, sondern eher seinen Zorn in Spaß verwandeln. Und das ist ihm gelungen.

Dabei ging es ihm nicht darum, Ekel als Primärreiz à la Dschungelcamp einzusetzen. "Essen ist ein universelles Thema", sagt er. "Alle Leser verbinden damit etwas." Er wundere sich darüber, dass viele möglichst wenig über einen so wesentlichen Teil des alltäglichen Lebens wie das Essen wissen wollen. Und so ließ er den Supergaumen seiner Figur zum Fluch werden. Hinter jeder Lebensmittelgeschichte steckt auch eine Kriminalgeschichte. In Rob Guillory fand er den richtigen Zeichner.

Das Manuskript von Layman und Guillory wurde von US-Großverlagen abgelehnt, sodass "Chew" schließlich bei Image erschien, wo Autoren die Copyrights an ihren Figuren nicht an den Verlag abtreten müssen. "Chew" gelangte auf die Comic-Bestsellerliste der New York Times. 2010 bekamen John Layman und Rob Guillory sowohl den Harvey als auch den Eisner Award als "Beste Neue Serie". Und der Kabelkanal AMC bringt nun auch eine Fernsehserie heraus.

Zeichner Rob Guillory wurde für "Chew" im letzten Jahr zudem als "größtes neues Talent" mit dem Harvey Award ausgezeichnet. Es ist schwer vorzustellen, wie die TV-Serie den karikaturhaft verformenden Stil Guillorys übertragen oder ersetzen will. Seine Seiten ordnet er nach starken Bildmotiven oder -momenten an. Die Bilderrahmen sind so gesetzt, wie die Gestaltung der Hauptmotive es nahelegt. Mit seinen spielerischen Zeichnungen sorgt er für den ästhetischen Puffer, der die hässlichen Dinge, die in "Chew" geschehen, witzig aussehen lässt.

Wie wegen des aktuellen Lebensmittelskandals in Deutschland zurzeit tatsächlich, so wächst in "Chew" das Misstrauen gegen staatliche Institutionen, die die Branche überwachen sollen. Die Hühnerprohibition treibt einige gar in den Untergrund, wo sie als "Essguerilla" für Freiheit und guten Geschmack kämpfen. Einer von ihnen ist übrigens Tonys Bruder, ein gefeuerter Fernsehkoch, der seinen Zuschauern sagte, die Fernsehkochkultur sei nur dazu da, vom tatsächlichen Geschmackserlebnis abzulenken. Bilder würden ja nicht schmecken. Dasselbe sagte jüngst Starkoch Eckart Witzigmann, für den in unserer Kultur zwar Essen allgegenwärtig ist, nicht aber der Genuss.

Dasselbe Problem hat die Comicfigur Tony Chu, für die jede Nahrung zu belastet ist, um sie noch genießen zu können. Die Erlösung für den zornigen Tony Chu ist da die Restauranttesterin Amelia Mintz. Mit ihr führen Layman und Guillory eine weitere Figur ein, die dem Comic zusätzliche Tiefe verleiht. Amelia Mintz überträgt als "Saboskripterin" Geschmack in Worte. Sie schreibt für die Tagespresse über Restaurants, die das Gesundheitsamt als bedenklich eingestuft hat.

"Um ehrlich zu sein, ich bin wie die meisten Amerikaner: Ich versuche, nicht so viel darüber nachzudenken", sagt Layman. Doch der Comic zeigt einen Weg, sich dem Thema mit Spaß zu widmen. Und: Bilder schmecken doch.

John Layman, Rob Guillory: "Chew – Bulle mit Biss 1: Leichenschmaus". Cross Cult, 128 Seiten, 16,80 €.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.