Elfriede-Jelinek-Stück in München: Müde der eigenen Klagen

Eine sehr persönliche Prosa über das gefräßige Monster Zeit: Für die Münchner Kammerspiele schrieb die Dramatikerin Elfriede Jelinek eine "Winterreise".

Der Schneesturm, mit dem die "Wintereise" an den Münchner Kammerspielen beginnt. Bild: Julian Röder

Ein gewaltiger Schneesturm tobt hinter einer schwarzen Wand. Der aufheulende Wind zerrt an dem zerzausten Wandersmann (Stefan Hunstein), der sich mit seinem Rucksack durch eine Tür auf die Bühne kämpft, auf der ein Pianist im Skianzug sitzt. So beginnt die "Winterreise", die Elfriede Jelinek im Auftrag der Münchner Kammerspiele auf den Spuren von Franz Schubert angetreten hat.

Entstanden sind fast 130 Seiten sehr persönliche Prosa, ein polyphoner Monolog, ein von Zitaten des Liederzyklus durchzogener Klagegesang über das gefräßige Monster Zeit, "das Vorbei", über Vergänglichkeit und Vergeblichkeit, offene Wunden und schmerzende Einsamkeit. Nicht ganz frei von Leidensstolz versichert uns Jelinek, dass sie eine ewig Fremde bleibt in der Welt der "Abfahrer" und "Anleger".

Vielleicht war Johan Simons so viel Selbstentblößung ja unheimlich. Leicht ist es jedenfalls nicht zu erklären, warum sich der sensible Regisseur mit diesem Text gar so schwer tut. Immer wieder behilft er sich mit vordergründigen Bildern und drolligen Spielereien, um die monologischen Wortfluten im Theater konsumierbar zu machen. Ein nicht enden wollender Schluckauf befällt die Akteure, da wird getänzelt, gegrabscht, geträllert. Eine kalauernd kapitalismuskritische Hochzeitsfarce, in der Jelinek das gierblinde Aufkaufen und Fusionieren auf dem Finanzmarkt vorführt, gerät Simons gar zur überdehnten Comedynummernrevue.

Dabei hat der Kammerspiel-Intendant ein in seiner Heterogenität wunderbares deutsch-belgisches Ensemble versammelt. Mit perfider Häme rottet es sich zur Mehrheitsmeute zusammen, die über Natascha Kampusch (Kristof Van Boven) herfällt, aus Neid auf deren von Fernsehkameras beleuchtete Staropferrolle. Von der von den Medien ausgeschlachteten und auf den Müll geworfenen Passionsfigur Kampusch führt Jelinek mitten hinein in ihre Familiengeschichte, ihr eigenes Elend, zu ihrer desperaten Mutterbeziehung und der Einweisung ihres Vaters in eine Nervenheilanstalt.

Spröde und eindringlich bekennt Wiebke Puls als Jelinek-Double ihren durch nichts und niemanden zu stillenden Liebeshunger, jagt in den Internet-Beziehungsbörsen der Fata Morgana nach, irgendeiner könne sie noch einmal "so lieben wie Mama", während sich doch bestenfalls "eine neue Fotze, ein neuer Schwanz" anbietet. In einem langen Monolog zeigt der fantastische André Jung das bis in die kleinste Nuance präzise Porträt eines Mannes, dem die Welt ins Vergessen zu entgleiten beginnt, klagt mit fassungsloser Verstörung seine Frau und Tochter an, die ihn mit dem "Abwaschwasser ihres eigenen Lebens" in ein Heim entsorgen.

Dass sie an mehr leidet als an den ganz gewöhnlichen Neurosen normaler Leute, darüber hat uns die österreichische Nobelpreisträgerin nie im Zweifel gelassen. Und dennoch dominiert in der "Winterreise" eine neue Grundmelodie. Sicherlich ist dies ein typischer Jelinek-Text, der routiniert auf Wortfeldern wildert, sich mit Ironie panzert, in Wiederholungsschleifen kreist und leerläuft, doch selten wurde so deutlich, dass es das Gedankenhamsterrad der Depression ist, das ihre repetitiven Rotationen antreibt.

Wir begegnen den vertrauten Attacken auf eine von Borniertheit, Profit- und Betäubungsgier beherrschte Gesellschaft, aber im Herzzentrum dieser "Winterreise" wohnen nicht die Ekstasen des Zorns, sondern Einsamkeit, therapieresistente Verzweiflung und eine maßlose Traurigkeit. Wirklich darauf einlassen mochte sich Simons nicht, der den Eingangsmonolog einer alternden Frau einem Mann übertragen hat und der Ich-Erzählerin das letzte Wort entzieht. Jelineks Schlussabrechnung mit sich selbst, dem eigenen "Geleiere", kommt in der gekürzten Kammerspiel-Fassung nicht vor.

Die Inszenierung löst den Bogen, der Schuberts Liederzyklus folgte, auf, er zerfällt in collagierte Episoden, in die persönliche Erinnerungen Simons einfließen. Auf der Leinwand überschwemmt die Sturmflut von 1953 Holland, ein Junge verwandelt in einem wilden Tanz seine Holzpantinen in Ballerinas. Allein das ist eine ganz andere Geschichte. Auch die würden wir gern einmal hören, an diesem Abend aber bleibt sie isoliertes Zitat.

Ebenso wie der Kurzauftritt eines Snowboarders und der dröhnende Radau am Ende - Verweise auf gestrichene Passagen der Vorlage, die ohne deren Lektüre unverständlich sind. So macht Simons Jelineks "Winterreise" zerrissener und verrätselter als sie ist. Und selbst die großartigen Schauspieler können nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zu diesem todtraurigen Textgewebe keinen Zugang gefunden hat.

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