HEIKE HAARHOFF ÜBER ARZNEI-STUDIEN AN MENSCHEN
: Pharmaindustrie zieht weiter

Ethische Standards sind nicht das Problem. Sondern dass die Volkskrankheiten erforscht sind

Bei aller Erschütterung über die Pläne der EU-Kommission, die ethischen Standards für Arzneistudien auf ein – man kann es nicht anders nennen – unterirdisches Niveau abzusenken: Die ursprüngliche Idee aus Brüssel, Antragsverfahren für klinische Studien zu vereinfachen und Dossiers der Pharmaindustrie elektronisch wie EU-weit einheitlich zu bewerten anstatt nach 27 Geschmäckern von 27 Mitgliedsstaaten, diese Idee hat Charme.

Ihre Umsetzung indes ist so grotesk, dass inzwischen nicht nur das deutsche und das europäische Parlament Alarm schlagen, sondern sogar die forschenden Arzneimittelhersteller in Deutschland. Sie alle reiben sich die Augen über die historische Ignoranz Brüsseler Kommissare, die da mal eben per Verordnung zivilisatorische Errungenschaften wie die unabhängigen Ethikkommissionen oder den besonderen Schutz Minderjähriger abschaffen wollen. Verbot von Menschenversuchen, Ethikkommissionen, verankert in der Deklaration von Helsinki – alles nicht mehr zeitgemäß?

Diese Denke ist so kleinkariert wie falsch. Denn warum verlagern Pharmafirmen manche ihrer Studien nach China, Indien, Brasilien oder Russland? Doch nicht aus Angst vor den europäischen Ethikern. So wichtig sie sind, die Industrie zittert nicht vor ihnen. In weniger als 5 Prozent der Fälle lehnen diese die Anträge komplett ab; der konsensorientierte Dialog mit der Industrie prägt die Realität.

Nein, die Industrie verlässt den Wirtschaftsstandort Europa, weil bei uns die großen Volkskrankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck weitgehend erforscht sind. Auch die Zahl der zur Verfügung stehenden Wirkstoffe ist begrenzt. Was bleibt, ist die Erforschung von Medikamenten unter Berücksichtigung etwaiger ethnisch bedingt abweichender Verträglichkeiten. Das geht am besten: bei den Konsumenten vor Ort. Das Aufgeben ethischer Standards dreht keine Uhr zurück.

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