Aktionen gegen Greenwashing: Lesen mit Atomantrieb

In den kommenden Tagen bieten sich den Hamburger Literaturfreunden viele Lesungen, mal von Seiten der "Vattenfall Lesetage", mal von deren erklärten Gegnern. Doch wo liegen die Unterschiede?

Liest gegen den Atomstrom: Günter Grass, Nobelpreisträger. Bild: dpa

HAMBURG taz | Gleich zwei Gegenveranstaltungen haben sich dieses Jahr zu den "Vattenfall Lesetagen" gesellt. Bereits zum zweiten Mal tritt die Initiative "Lesetage selber machen - Vattenfall tschüss sagen" mit einem alternativen Programm gegen Vattenfall an. Auch wenn es den Organisatoren, einer Gruppe aus Öko-Aktivisten, dem Nautilus-Verlag und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), auf große Namen nicht ankommt, haben sie doch einige bekannte Autoren auf ihrer Seite. Die zweite Anti-Vattenfall-Veranstaltung "Lesen ohne Atomstrom" schickt dagegen allein die Prominenz ins Rennen: Günter Grass, Feridun Zaimoglu und Nina Hagen werden kostenlos lesen. Für Grass und Hagen hat man einen besonders szenischen Ort ausgesucht: das Atomkraftwerk Krümmel.

Die Unterschiede im Überblick:

Selbstverständnis

Vattenfall: Das Literaturfestival des Versorgungsunternehmens möchte zum 13ten Mal "zur Kulturvielfalt in unserer Stadt beitragen" und "neue Energie für Kopf und Seele liefern können". Auf verschiedenen Plakaten und Werbefotos drücken eine blonde Frau, ein blondes Mädchen und ein lockenköpfiger junger Mann mit zu vermutenden Migrationshintergrund ihre unbändige Vorfreude aus. Manchmal gesellt sich auch ein älterer Herr mit Elbsegler hinzu.

In Hamburg gibt es die Lesetage seit 1999. Zunächst durch die Hamburgischen Electricitäts-Werke finanziert, haben sie durch deren Privatisierung den Namen ihres neuen Veranstalters Vattenfall geerbt.

Medienpartner der Lesetage sind das Hamburger Abendblatt und der Norddeutsche Rundfunk (NDR). "Bei der Medienpartnerschaft stehen die Lesetage im Vordergrund und nicht deren Veranstalter Vattenfall", sagt Martin Gartzke, Sprecher des NDR.

Das ambivalente Verhältnis der taz zu den Lesetagen beleuchtet das Interview unten.

Vattenfall-Gegner: "Immer im Frühjahr, wenn der Energiekonzern seine Werbung für seine Lesetage platzierte, spürten viele ein ungutes Gefühl in sich aufsteigen", postulieren die Veranstalter von "Lesetage selber machen - Vattenfall tschüss sagen". Das ungute Gefühl kommt von den AKWs Brunsbüttel und Krümmel sowie vom geplanten Kohlekraftwerk Moorburg. Erklärtes Ziel ist es daher, dem Unternehmen Vattenfall jegliche moralische Legitimität abzusprechen, weiterhin als Kultursponsor aufzutreten. Und zwar ganz praktisch: vorlesenderweise.

Verbreitungsgrad

Vattenfall: Breit verstreut an vielen auch lesungsuntypischen Orten wie dem Universitätsklinikum Eppendorf oder dem Vattenfall Center in der Innenstadt. Da die Vattenfall Lesetage gerne auch von Menschen aus den Außenbezirken der Stadt besucht werden, beginnen mit Rücksicht auf den dort unzulänglichen Nahverkehr die Abendveranstaltungen recht zünftig um 19 Uhr.

Vattenfall-Gegner: Die Lesungen sind vorzugsweise in den Stadtteilen angesiedelt, in denen WG-Zimmer und günstiger Wohnraum (gern auch renovierungsbedürftig) gesucht werden.

Frauenquote der Lesenden

Vattenfall: 36,7 Prozent*

Vattenfall-Gegner: 55,6 Prozent*

* ohne Kinderprogramm

Nobelpreisträger

Vattenfall: -

Vattenfall-Gegner: Günter Grass

Literarische Highlights

Vattenfall: Silke Scheuermann, Moritz Rinke, Peter Stamm sowie Tina Uebel. Oder auch Veronique Olmi, Markus Orths, der Isländer Einar Kárason - an manchen Abenden fällt die Entscheidung, wohin man gehen soll, tatsächlich schwer.

Vattenfall-Gegner: Feridun Zaimoglu und Nina Hagen für "Lesen ohne Atomstrom", bei "Lesetage selber machen" Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer und Katrin Seddig. Danach wird es etwas mau. Es sei denn, man hat lange keine Lesung mit Harry Rowohlt oder Robert Brack mehr erlebt.

Überraschungsgast

Vattenfall: Kim Leine! Denn der Däne fegt mit seinem Buch "Die Untreue der Grönländer" jeden Grönland-Kitsch hinweg.

Vattenfall-Gegner: Wiglaf Droste! Schwer vorstellbar, dass der Spötter die derzeitige "Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Atomkraftgegner"-Stimmung unkommentiert lässt.

Spaßfaktor

Vattenfall: Wie in den Jahren zuvor möchte das Festival vor allem unterhalten und gefallen. Eher gediegene, ruhige Atmosphäre. Aber: Chance, mal neben Menschen zu sitzen, die aus Lurup oder Wandsbek kommen und die auch Bücher mögen. Charmant, weil authentisch: Einführungen in die Lesungen durch echte Vattenfall-Mitarbeiter, die sonst in der Verwaltung sitzen oder in der Technik arbeiten.

Vattenfall-Gegner: Viele Veranstaltungen treten an, um vom Geist des Engagements für die richtige Seite zu leben. Sehr hoher moralischer Anspruch. Echte Aufreger und wilde Meinungsstreits sind eher nicht zu erwarten. Man ist vermutlich erstmal(?) unter sich.

Ausstrahlung

Vattenfall: Gut eingeführtes und finanziell abgesichertes Traditionsfestival, dass auch von Vattenfall-Gegnern als "sinnvoll" anerkannt wird. Verschiedene thematische Schwerpunkte ("Vater-Tochter-Mutter-Sohn", "Menschenkenner"), die in der Umsetzung nicht immer überzeugen.

Vattenfall-Gegner: Viele Lesungen kreisen sehr konzentriert um die großen Probleme unserer Welt (Kolonialismus, Gentrifizierung, FC St.Pauli). Ob das über das eigene Klientel hinaus allgemein die Hamburger begeistert, bleibt abzuwarten. Der Stolz, mit wenig Mitteln ein Festival auf die Beine gestellt zu haben, sorgt im Vorfeld für viel Sympathie.

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