Sachverständige gegen EU-Abschottung: Im Boot ist noch Platz

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration kritisiert den Umgang der EU-Staaten mit Flüchtlingen und warnen vor "populistischer Kulturpanik".

Einige der tunesischen Flüchtlinge, die am 12. April im Lager auf der italienischen Insel Lampedusa gegen ihre Abschiebung zurück nach Tunesien protestierten. Bild: dpa

BERLIN taz | Der Umgang der EU-Staaten mit Flüchtlingen aus Nordafrika stößt beim Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) auf Kritik. "Die ,Festung Europa' darf sich nicht länger darauf beschränken, ihre Außengrenzen abzuschotten", fordert der SVR in seinem Jahresgutachten. In "überschaubarem Umfang" müssten legale Zuwanderungswege eröffnet werden. Für eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen gibt es laut SVR-Zahlen auch Unterstützung in der Bevölkerung.

Die bisherigen Herkunftsländer von Migration in Richtung Deutschland dürften schon bald als Zuwanderungsquellen ausfallen. Viele Schwellenländer werden wirtschaftlich aufholen und selbst Zuwanderung anziehen, sagt der SVR voraus. Deutschlands Nachbarn fallen als Herkunftsländer ebenfalls weg, da hier der demografische Wandel wirkt. Der SVR fordert deshalb eine Umorientierung auf neue Herkunftsgebiete, vor allem in Zentral- und Südostasien (etwa Indien und Usbekistan) sowie Nordafrika (Marokko, Ägypten und Tunesien).

Seit Beginn der politischen Umwälzungen in der arabischen Welt sind aus Nordafrika über 25.000 Menschen allein nach Italien geflohen. Obwohl bis jetzt noch keiner dieser Flüchtlinge bis nach Deutschland gelangt ist, kündigten Innenpolitiker von CDU und CSU bereits an, Grenzkontrollen zu verschärfen. Das Signal ist: Abschottung und Abschreckung.

Ein fatales Signal, findet der SVR. Er warnt vor "wirtschaftsfeindlicher populistischer Kulturpanik". Bei der Flüchtlingsaufnahme, so plädiert der SVR, sollten "in gewissem Umfang auch Interessen des Aufnahmelandes eine Rolle spielen dürfen". Qualifizierte Flüchtlinge könnten nicht zurückgeschickt werden, "während man gleichzeitig genau diese Berufsgruppen mit geringem Erfolg als qualifizierte Zuwanderer sucht".

Dabei könnte die Politik, anders als oft angenommen, für einen solchen Kurs mit viel gesellschaftlicher Unterstützung rechnen. Das SVR-Migrationsbarometer, eine repräsentative Umfrage von 2.450 Personen mit und ohne Migrationshintergrund, zeigt: Fast 50 Prozent der Nichtmigranten wünschen sich eine großzügigere Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden - gegenüber 25 Prozent, die eine noch restriktivere Aufnahmepolitik befürworten.

Die Politik verwechsele die "nüchternen Einschätzungen der Bürgergesellschaft oft mit hysterischen publizistischen Diskursen", meint der SVR-Vorsitzende Klaus Bade. Zu häufig würde sich "auf eine angeblich verbreitete ,Das Boot ist voll'-Panik" berufen. Die angeblich vorhandene Stimmung diene dann als "Legitimation zum politischen Nichthandeln beziehungsweise zur Fundamentalopposition" gegen jegliche Migrationspolitik.

Auch sonst ergibt das Migrationsbarometer das Bild einer Bevölkerung, die überwiegend gut informiert ist und die Lage nüchtern einschätzt. Fast zwei Drittel gehen richtigerweise davon aus, dass es einen negativen oder beinahe ausgeglichenen Wanderungssaldo in Deutschland gibt. Nur beim Hauptherkunftsland zeigt sich Unwissenheit: Die Türkei sei Spitzenreiter, glauben 30 Prozent. In Wahrheit kommen die meisten Zuwanderer aus Polen - davon gingen nur 6 Prozent aus.

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