Der sterilisierte Autor

Jenseits aller Pflichtübungen ist bei Hubert Fichte noch viel zu holen. Man darf nur nicht immer dieselben alten Fragen an ihn richten. Im Versuch, die verschiedenen Bilder des Autors zusammenzubringen, entsteht eine Vorstellung von seinen Ambivalenzen und wohl tuenden Sperrigkeiten

VON JAN-FREDERIK BANDEL

Eine „nicht mehr rückgängig zu machende Störung“ seiner „Beziehungen zur Gesellschaft“, erklärte Hubert Fichte im Juni 1985, hindere ihn, die Einladung zur Aufnahme in die Freie Akademie der Künste anzunehmen: Als Autor, „der homosexuell ist und Halbjude“, müsse er damit rechnen, unter Berufung auf das, was die Satzung der Akademie „unwürdiges Verhalten“ nennt, bald wieder ausgeschlossen zu werden.

Diese Störung ist es letztlich, die Fichte mit dem – für seine Literatur so entscheidenden – Begriff der „Empfindlichkeit“ benannt hat: Sie bestimmte auch sein fasziniertes Interesse für subkulturelle Gegenströmungen. Desillusioniert von traditionslinken Oppositionsmodellen und entsetzt über die krude Revolutionsrhetorik seiner Zeitgenossen wie über deren rasches Drängen in die Institutionen, pries er das „Zwischen-allen-Stühlen-Sitzen“, das „Sich-nicht-Zurechtfinden“, wollte „nicht den Ödipus-Komplex hinnehmen und nicht die Industrialisierung“.

Er fand all das in der Boheme rund ums Hamburger Kellerlokal „Palette“, dem er 1968 ein literarisches Denkmal gesetzt hat, in der Gegenwelt der Rotlichtviertel und der schwulen Subkultur, der Lederszene, ohne diese in seinen Romanen und Dokumentationen jemals zu romantisieren: In ihren Ambivalenzen, in ihrer Kaputtheit, wie er selbst es nannte, lag für ihn das Moment von Erkenntnis und Widerständigkeit. Auch für sich selbst hat Fichte Widersprüchlichkeit reklamiert: „Ich glaube, dass relevante Aussagen zum Menschen und zur Gesellschaft nur aus einer Zerstörtheit und aus der Bereitschaft, immer wieder sich zu zerstören, hervorgehen“, erklärte der Schriftsteller 1973.

Der hagiografische Zug, den die Fichte-Rezeption andernorts bekam, ließ dagegen all das Sexuelle, das in Hubert Fichtes eigenen Worten „die wichtigste Rolle“ in seinem Leben spielte, zurücktreten. Hamburgs Kiez St. Pauli, von Fichte als Zentrum der „sexuellen Befreiung durch Multimedia und Pop“ gepriesen, als subkultureller Entstehungsort neuer Formen des Theatralischen, wurde zum nachrangigen Thema eines übergreifenden Forschungsprojekts herabgestuft, langjährige Freundschaften wie jene mit dem schreibenden, malenden Bordelliero und Privatethnologen Wolli „Indienfahrer“ Köhler als Forscherinteresse an so genannten Außenseitern abgetan, ganze Werkkomplexe als Nebenprodukte eingeklammert, die Homosexualität oder, wie man zu sagen bevorzugte: Bisexualität nur mehr als Metapher geführt.

Dieses Reinlichkeitsbestreben reicht leider bis hin zur Ausstellung „Hubert Fichte und Leonore Mau. Der Schriftsteller und die Fotografin“, die noch bis zum 8. Januar im Haus der Photographie in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen ist: Dort ist den Themen „Homosexualität“ und „St. Pauli“ je eine einzige, recht nichtssagende Vitrine zugewiesen. Es bleibt: der große Forschungsreisende, der große Dichter, der souveräne Akteur des Literaturbetriebs.

Auch die Herausgeber seines Hauptwerks ignorieren streckenweise die Momente des Unfertigen und Widersprüchlichen in Fichtes Texten. In den letzten Lebensjahren arbeitete er an einem nur wenigen Freunden in Auszügen bekannten Projekt: der auf 19 Bände angelegten Geschichte der Empfindlichkeit. Er wolle sich damit, solange es nicht abgeschlossen sei, der Gnadenlosigkeit des Kulturbetriebs nicht aussetzen, beschied er Neugierigen.

In einer letzten Verfügung vom Februar 1986 – wenige Tage vor seinem Tod – hat Fichte das fragmentarische Großwerk aus Interviews, Romanen und ethnografischen Aufzeichnungen in die Ordnung einer möglichen posthumen Edition gebracht. Er erkannte, dass er die Geschichte nicht mehr vollenden würde. Ein Realismus, den ihm die späteren Herausgeber nicht zugestehen mochten: Sie erklärten das monumentale Konvolut von Romanmanuskripten, Rohfassungen, Materialsammlungen zum abgeschlossenen Werk und begannen 1987 mit der Herausgabe des Ganzen. Befremdlich ist das Beharren auf Abgeschlossenheit, wenn man bedenkt, dass gerade das Fragmentarische die Faszination und Zeugniskraft dieser Texte ausmacht.

Befremdlich zumal, da die nachgelassenen Bücher sämtlich vom Scheitern handeln. Gescheitert, so lautet Fichtes Befund in der Geschichte der Empfindlichkeit, ist die Utopie einer bisexuellen, androgynen Welt. Die Entdeckung von Aids und all die Hysterisierung, all die homophobe Mobilisierung, die mit ihr einhergingen, ragen mitten hinein in Fichtes Entwurf. Gescheitert auch: die Suche nach der radikalen Offenheit für andere Erfahrungswelten. Gescheitert schließlich: das Projekt der „Verwörterung der Welt“, das er mit seinem Großwerk unternahm – ein Scheitern freilich, das stets als der angemessene Abschluss dieser Geschichte kalkuliert war.

Dieser Pointe haben sich gerade die Verehrer Fichtes oft verschlossen. Die Geschichte seiner Rezeption – gerade in den bald zwanzig Jahren seit seinem Tod – ist ein Wechsel und Nebeneinander unterschiedlicher, sämtlich sehr partieller Bilder. Der immensen Bedeutung, die sein Werk z. B. für eine emanzipatorisch verstandene schwule Literatur und Literaturforschung hierzulande hatte, steht neben Fichtes Engagement auch seine Skepsis schon gegenüber solchen Begriffs- und Gruppenbildungen gegenüber: „Dann müsste es epileptische Literatur geben“, spottete er, „asthmatische, Literatur der Fensterputzer und Fahrradliteratur, Backlyrik und Joggerdramatik.“ Und auf die Einladung, an einem Hans-Henny-Jahnn-Kolloquium des (inzwischen aufgelösten) Siegener Forschungsbereichs „Homosexualität und Literatur“ teilzunehmen, entgegnete er: „Wenn ich so etwas von engagierten Freunden lese, möchte ich mich nur noch aufhängen. Eine gemeine sinnlose Floskel nach der anderen. Wir haben umsonst gearbeitet.“

Fichte hat in seinen Texten nie um Verständnis für Homosexualität geworben, sondern sie in einem Lob des Arsches zum Nonplusultra erklärt, sie niemals als leidvolles Hoffen auf Normalität, sondern als weltumspannende Ekstase inszeniert. Er hat sich geweigert, die Reform des Paragrafen 175 als Befreiung zu feiern, sich artig fürs Zugeständnis der selbst erklärten „Normalen“ zu bedanken. Vielmehr pries er die „Verschwulung der Welt“ (wie es in seinem 1971er-Roman „Detlevs Imitationen ‚Grünspan‘ “ heißt) als einzig diskutablen Modus des Zusammenlebens – noch angesichts des Scheiterns, in dessen Gewissheit er gestorben ist.

„Geschüttelt von den Aids-Artikeln der Weltpresse, schreibe ich einen wahnsinnigen Roman über ebendas, was uns nun wohl demnächst verboten werden soll: homosexuelle Orgien“, notierte er während der Arbeit an seinem Roman „Explosion“, dem letzten, den er in einer Rohfassung fertig stellen konnte. Und natürlich wusste er, dass die Liberalisierung nicht nur die von ihm stets gefürchtete Institutionalisierung der Subkultur endgültig festschreiben würde, sondern dass sie die notwendige Zielrichtung auch seines eignen Engagements war.

Die verschiedenen möglichen Projektionen aber, die gerade die Lobredner Fichtes präsentieren, laufen Gefahr, hinter dessen eigene Reflexion zurückzufallen: Wer in Fichte nur einen Revolutionär der Ethnografie sehen will, einen Schriftsteller, dem gelang, was den Wissenschaftlern der zuständigen Disziplinen fast durchweg missraten sei: das Einlassen auf die ganz anderen Erfahrungen Brasiliens, Haitis, Senegals, des schwarzen New York usw., verkennt, dass Fichte selbst stets das exotistische, projektive, letztlich: touristische Moment seines Forschungsbegehrens präzis reflektiert hat. Und dass er nur zu genau wusste, welche Töne im euphorischen Lob „großer Negerärsche und -pimmel“ mitschwangen.

„Von Ausnahmen abgesehen, gibt es zwei Gruppen von Leuten: die mit Touropa reisen und die vor Hunger Militärkantinen plündern“, erklärte er schon 1971 – am Anfang seiner Erkundungen der so genannten Dritten Welt: „Es geht mir darum, die Entwicklung eines Mitglieds der ersten Gruppe zu schildern und seine Reaktionen auf die zweite.“ Es ist Fichtes großes Verdienst, bei aller Intensität und auch rigiden Selbstdisziplinierung seiner Forschung (bis hin zum Herbarium, das in der Hamburger Ausstellung bewundert werden kann) diesen Ausgang nie geleugnet, die Widersprüche, die er mit sich bringt, nie fortretuschiert zu haben.

Auch Fichtes Position im bundesdeutschen Literaturbetrieb war weit ambivalenter, als man denkt: Die Geste der letzten Verfügung macht es noch einmal deutlich: So radikal seine Weigerung war, Teile der Geschichte in Druck zu geben, so pragmatisch war seine Verwaltung der Fragmente – und so gelungen wohl auch der Coup, sie im Verlag unterzubringen, um den Unterhalt seiner Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, erst einmal zu sichern.

Zwischen seiner Ankunft im Betrieb, Anfang der Sechzigerjahre, als er nach gescheiterten Versuchen, sich als Theaterautor zu etablieren, in die Nachwuchsriege der Gruppe 47 geriet und im Wahlkontor deutscher Schriftsteller die SPD bedichtete, und der scharfen Rückschau seines noch unveröffentlichten – vom Autor auf 2016 datierten, vom Fischer Verlag für Februar 2006 angekündigten –, letzten Bandes der Geschichte der Empfindlichkeit, „Die zweite Schuld“, liegt eine weite Strecke zunehmender Entfremdung, Desillusionierung, aber auch viel Diskrepantes: Betriebsnudelei und Verweigerung, das Bedürfnis nach Anerkennung, die Verletzlichkeit, aber auch eine sehr präzise Analyse des Betriebs, der immer wieder Gegenstand seiner Bücher ist, schließlich eine ungemeine Begeisterung für Klatsch aller Art (die Begegnung des Fabrikanten Henkel mit dem sich in seiner Badewanne räkelnden Fritz J. Raddatz, Gabriele Wohmanns Werben um die Aufmerksamkeit der Präsidentengattin Heinemann, die Umgangsformen Peter Rühmkorfs im Bordell …).

Raddatz, Fichtes Lektor und Wegbegleiter, konnte den Nachlasspublikationen entnehmen, dass er für Fichte beides war: langjährig-enger Freund und kalt beobachteter Phänotyp eines als hohl, verlogen, letztlich: mörderisch begriffenen Literaturbetriebs. So bleibt auch in dieser Hinsicht die Aufforderung, die Perspektive auf den Dichter mit wechselnden Umgebungen aufzubrechen und den Autor und die Person Hubert Fichte als historisches Subjekt in den Kontexten und Debatten seiner Zeit zu sehen.

Dabei ist bemerkenswert, dass die Rekontextualisierung Fichtes durch die Popliteratur und ihre Historiker, die in den letzten Jahren geschehen ist, einige beachtliche Entdeckungen in der Ästhetik seines Werks erlaubt hat: den „akustischen Fichte“, den die Berliner Schriftstellerin Kathrin Röggla so präzis beschrieben hat (und der zu hören ist auf den CD-Editionen des Kölner supposé-Labels), die Dialektik von Form und Formlosigkeit, Fichtes Begeisterung für das Erstellen von Listen, sein Lob des Kaputten und eben seine Erkundungen der Subkulturen. Diese vorgezogene Wiederentdeckung Hubert Fichtes sollte durch das neuerliche Bemühen um einen repräsentativeren Fichte nicht verdrängt werden. Sie ist zwar nicht minder eng gefasst als die übrigen Konstrukte, doch immerhin neu in ihrer Stoßrichtung.

JAN-FREDERIK BANDEL, Jahrgang 1977, hat bisher drei Bücher zu Hubert Fichte veröffentlicht: „Hotel Garni, Doppelzimmer“ (Rimbaud 2004), „Fast glaubwürdige Geschichten. Über Hubert Fichte“ (Rimbaud 2005), „Palette revisited. Eine Kneipe und ein Roman“ (mit Lasse Ole Hempel und Theo Janßen, Nautilus 2005)