Autorin über "Last Exit Volksdorf": "Bin ein geisteskranker Rechercheur"

Die Hamburger Autorin Tina Uebel veröffentlicht ihren Roman "Last Exit Volksdorf" nach einem Rechtsstreit erneut. Ein Gespräch über Lieblingsschriftsteller, Maulkörbe und subjektive Gefühlswelten.

Es macht einen Unterschied, ob man in Hamburg St. Pauli oder in Volksdorf trinkt ... Bild: dpa

taz: Kann's losgehen?

Tina Uebel: Leider bin ich noch etwas groggy, ich habe kaum geschlafen die letzten beiden Nächte.

So macht man doch die besten Interviews.

Na ja, nicht, wenn im Hintergrund die Anwälte lauern und warten, dass du was sagst, was du nicht sagen darfst.

Viel Stress gehabt?

Bei uns im Haus hat es vorgestern Nacht gebrannt. Ich bin aufgewacht, weil ich keine Luft mehr bekommen habe. Als ich auf den Balkon geflüchtet bin, stand unten schon die Feuerwehr, die mich mit der Feuerleiter gerettet hat. Jetzt brauche ich erst mal eine Zigarette und einen Kaffee.

Tina Uebels vierter Roman "Last Exit Volksdorf" (C. H. Beck, München 2011, 301 S., 19,95 Euro) war nur kurz erhältlich. Ein Volksdorfer glaubte sich in einer der Figuren porträtiert, sah seine Persönlichkeitsrechte verletzt und erwirkte eine einstweilige Verfügung. C. H. Beck nahm das Buch vom Markt. Mittlerweile hat man sich offenbar außergerichtlich geeinigt. Am 23. Mai erscheint die zweite, überarbeitete Auflage.

Der Titel Ihres neuen Romans "Last Exit Volksdorf" spielt an auf Hubert Selbys Roman "Last Exit Brooklyn". Der gehört schon zu Ihren Hausheiligen, oder?

Ja, ich liebe Selby sehr. Hubert Selby und Thomas Bernhard sind meine Lieblingsschriftsteller.

Sie stecken da ein weites Feld ab.

Klar, es sind aber auch zwei ganz unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche. Bernhard steht für diesen fantastischen Sprachwahnsinn und für diese unglaubliche Komik. Und Selby ist einfach großartig, weil er einen schonungslosen Blick auf die nackte Kreatur Mensch hat, ohne etwas zu beschönigen, ohne irgendeine Form von religiöser Tröstung. Und ohne sich etwas vorzumachen, empfindet er trotzdem für diese Kreatur so viel Liebe. Das finde ich ergreifend. Ich habe ihn kurz vor seinem Tod noch gesehen und habe geheult wie ein Schlosshund, weil er das eben nicht nur schreibt. Er strahlte das auch aus. Da kam dieses kleine rippenlose Männchen auf die Bühne, und mich hats echt umgehauen. Und ich bin ja nun kein heulendes Literatur-Groupie. Ich finde es furchtbar, dass Selby vergessen ist.

Hubert Selby - vergessen?

Ich bin vorsichtig geworden mit dem, was ich sage. Also verschweige ich, wer von den wichtigsten deutschen Literaturkritikern es war, mit dem ich sprach, der noch nie etwas von Selby und "Last Exit Brooklyn" gehört hatte.

Ihr Buch wurde vom Markt genommen, weil sich jemand in einer Romanfigur erkannt zu haben glaubt und eine einstweilige Verfügung erwirkt hat. Und nun?

Mein Buch erscheint am 23. Mai in überarbeiteter Fassung. Für alles Weitere musste ich den Satz auswendig lernen: Bitte haben Sie Verständnis, dass ich aus juristischen Gründen zu der Sache weiter nichts sagen kann. Was mir einerseits schwerfällt, weil ich mein Herz gern auf der Zunge trage. Andererseits ist das Buch so überhaupt und zu keiner Sekunde als Skandalroman konzipiert worden, dass dieser Maulkorb vielleicht auch nicht das Schlechteste ist. Sonst müsste ich die ganze Zeit nur über den Skandal reden, will ich aber gar nicht.

Sondern?

Ich möchte, dass das Buch als Roman rezipiert und als solcher gut oder scheiße gefunden wird. Es sind fiktive Figuren. Es ist ja nicht mal ein Roman über Volksdorf, auch wenn ich dafür die entsprechende Geografie geplündert habe.

Als Volksdorfer kann man abgesehen vom literarischen aber zusätzliches Vergnügen an dem Roman haben.

Er hat allerhöchstens mit einem Volksdorf von vor 25 Jahren noch ein bisschen was zu tun.

Mich hat gewundert, dass Ihr Verlag sofort eingeknickt ist. Oder sind Sie eingeknickt? Man hätte das ja viel offensiver angehen und es beispielsweise auf ein Gerichtsverfahren ankommen lassen können. Warum nicht?

Bitte haben Sie Verständnis, dass ich aus juristischen Gründen zu der Sache weiter nichts sagen kann

Erscheint das Buch in geweißter oder geschwärzter Fassung - oder in einem grundsätzlich überarbeiteten Neudruck?

Neudruck.

Im Vorspruch zum Roman kokettieren Sie mit Ihrer eigenen Vergangenheit und grüßen die alte Volksdorfer Clique. War das klug?

Das sind Leute, die ich mag, alte Schulfreunde. Und da sind auch nur marginale kleine Insiderscherze drin. Wir sind alle mal nach einem Gewitter Blumen pflücken gegangen, und alle, die dabei waren, werden das natürlich wiedererkennen, wenn Joshua und Annie Maybe durch die Gärten koppheistern und Blumen klauen. Es war vielleicht ein Fehler, Volksdorf im Titel zu haben, das war auch für mich immer eher ein Arbeitstitel, aber dann dache ich, ich könnte einige Leute so dazu bringen, wieder über Hubert Selby zu reden.

Selby wurde in den bisherigen Rezensionen aber gar nicht erwähnt, obwohl ja auch die Kompositionsstruktur, dieses eher lose Geflecht mehrerer Plotstränge, an "Last Exit Brooklyn" angelehnt ist.

Ich hoffe, auch die Art und Weise, wie ich die Leute betrachte. Es war ja nicht so, dass ich dachte, ich müsste mal einen Roman über Volksdorf schreiben. Genauso wenig, wie ich einen Roman schreiben will, der in der Antarktis spielt oder in Amerika 20 Jahre in der Zukunft. Am Ursprung stehen eher abstraktere Überlegungen, dann mache ich mir Gedanken über das Setting.

Welche denn?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich Leute, die sich böse verhalten haben, wenn man von außen draufguckt, Leute also, die ich wirklich auf der Ganz-Bösen-Liste hatte, plötzlich ganz anders kennen lernte. Und ich merkte dann, dahinter steckt so viel Hilflosigkeit, Selbstverleugnung, Angst und Unsicherheit. Mein Ansatz war also, kann ich etwas entwerfen, in dem praktisch alle Figuren böse handeln. Und wenn man dann die Perspektive wechselt, sind sie es gar nicht mehr. Es ist ja nicht so, dass die morgens vorm Spiegel stehen und sich sagen: Ich bin böse. Das läuft anders ab. Sie wollen Sachen nicht wahrhaben, belügen sich selbst. Als ich das Thema hatte, dachte ich mir, das passt viel besser in das Environment einer wohlhabenden Mittelschicht. Denn nur hier haben die ja eine Fassade zu verlieren. Wenn du etwa ein Alkoholproblem hast, kannst du an einem Ort wie Volksdorf nicht einfach durch die Fußgängerzone wanken. Du musst das verbergen. Bist du ein St.-Pauli-Säufer, gehst du einfach runter in die Kneipe zu den anderen Trinkern. Es gibt halt Orte, wo soziale Kontrollmechanismen eine größere Macht haben und mehr Druck aufbauen.

Ich habe den Eindruck, es gelingt Ihnen bei den Jugendlichen besser, die Leser-Empathie zu wecken, obwohl die ja eigentlich auch durchaus bösartige Dinge tun. Bei den Erwachsenen bleibt da eine etwas denunziatorische Schlagseite. Lindner beispielsweise, der pädophile Sportlehrer, ist ein Schwein durch und durch.

Bei dieser Figur ist es natürlich am schwersten, Sympathie aufzubringen. Mit dem war ich auch am unzufriedensten. Am Ende habe ich dann etwas mehr den Dreh gekriegt, als ich mich gefragt habe: Was machst du denn, wenn du dich ganz elementar zu minderjährigen Mädchen hingezogen fühlst? Das ist eine solche grausame Strafe. Würde ich das Buch jetzt neu schreiben, würde ich diese Figur, glaube ich, noch differenzierter hinkriegen.

Ihr Erzähler ist ein unsicherer Kantonist. Auf der einen Seite schlüpft er in die Haut der Protagonisten, erzählt aus ihrer Perspektive und auch mit ihrem spezifischen Vokabular, aber trotzdem ist das keine reine Rollenprosa.

Es geht in allen meinen Büchern um die Frage nach der Realität, und da bin ich der festen Überzeugung, dass die immer subjektiv ist. Und dann habe ich noch mit einer etwas objektiveren, pseudogöttlichen Perspektive experimentiert. Die kommentiert immer rein wissenschaftlich, die greift nicht wertend, sondern rein mit wissenschaftlichen Fakten ein.

Die Erzählergestalt imitiert die Stimmen der Personen, aus deren Perspektive sie spricht, geht aber nicht darin auf. Gerade die Jugendlichen sind ja viel eloquenter, als sie es sein dürften.

Das sind natürlich Kunstsprachen, sonst kann man es als Leser auch gar nicht ertragen. Außerdem werden da auch nicht eins zu eins die Gedanken der Protagonisten erzählt. Es handelt sich eher um Gefühlswelten, die nicht von den Figuren zum Ausdruck gebracht werden, sondern von einem Schriftsteller.

Obwohl das gelegentlich schon den Charakter eines Bewusstseinsstroms bekommt, wenn etwa bei Joshua, dem Punk-Renegaten, immer wieder Songfragmente von den Ramones eingeflochten werden.

Ich habe mir sämtliche Ramones-Texte aus dem Netz gezogen, ich habe nämlich früher nie die gottverdammten Ramones gehört. Gott sei Dank gibt es Internet, sonst müsste ich mir einen anderen Beruf suchen. Ich bin ja ein geisteskranker Rechercheur. In "Frankie" steht eine Szene, die spielte vier oder fünf Jahre in der Zukunft, an einem Weihnachtsabend, und die Leute gehen in den Garten, dafür habe ich nachrecherchiert, welche Mondphase da sein wird, damit das auch stimmt.

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