Kolumne Das Tuch: Ich bin hier

Was muss und darf man als Migrant und Muslim wollen? Mehr als Andere oder weniger? Oder genau das Gleiche?

Die muslimischen Verbände müssen sich zu Homosexualität positionieren!", sagt er zu mir. Er ist CDU-Politiker und ehemaliger Minister. Wir sitzen zusammen auf dem Podium, und ich kann nicht glauben, was ich da höre. "Verlangen Sie denn dann auch von jedem Katholiken, dass er sich zu Homosexualität positioniert?", frage ich zurück. Er wird rot, schweigt und verschränkt trotzig die Arme.

Besser hätte er sich nicht entlarven können. Weshalb misst man in unserer Gesellschaft mit zweierlei Maß? Warum sollen sich Muslime und Migranten über das Grundgesetz hinaus zu etwas bekennen, wiederholt Loyalität zu Deutschland bekunden oder sich von irgendwelchen Dingen distanzieren? Ich bin hier und lebe hier. Ich muss mich zu nichts mehr oder weniger bekennen als meine Freundin Julia, die Nationalstaaten total bescheuert findet. Oder Claudia, die sich für die brasilianische Nationalmannschaft in gelb-grüne Flip-Flops und T-Shirts wirft, wenn Fußball-Weltmeisterschaft ist. Oder Lena, die den Kapitalismus satthat und lieber den Kommunismus einführen wollen würde.

Darf ich das auch wollen?

Es ist Abend. Der türkische Verbandsvertreter steht schnurgerade mit dem Sektglas in der Hand. Ich schiele zu ihm rüber und spüre seine Anspannung. Er bemüht sich um ein Lächeln in die Runde und streicht sich durch die dunklen Haare. Wir sind in Berlin bei einem Botschafter zum Essen eingeladen. Anlass ist der Sederabend, der Auftakt des jüdischen Pessach-Festes. Man ist gut angezogen, schicke Kleider die Damen, Anzug und Krawatte die Herren. Auch seine Krawatte sitzt - nur ein bisschen zu eng vielleicht.

Nach dem kurzen Empfang setzen wir uns an den festlich mit Silberbesteck dekorierten Tisch. Ich sitze neben einem bekannten und angesehenen Juden. Wir unterhalten uns über die jüdischen Traditionen und Eigenheiten. Ein jüdischer Professor führt uns in die Rituale des Sederabends ein. Er ist kein praktizierender Jude, deshalb muss ihn mein Sitznachbar hin und wieder korrigieren, humorvoll. Man lacht, scherzt und ist bemüht, jeden Gast einzubinden. Die angespannte Stimmung löst sich. Nur bei ihm nicht, dem türkischen Verbandsvertreter. Kerzengerade sitzt er an seinem Platz.

Später am Abend lehnt er sich über den Tisch. Er will einige Worte sagen. Man ist still, lächelt ihn an und hört ihm zu. Er schiebt die Gabel hin und her. "Danke für die Einladung!", sagt er. Bitte-gern-Gemurmel ertönt. Dann holt er aus: "Ich möchte mich im Namen meines Vereins von den terroristischen Anschlägen in Israel und den USA distanzieren. Das, was die gemacht haben, ist falsch. Die sind keine richtigen Muslime. Im Islam darf man das nicht. Wenn man einen Menschen tötet, dann ist das so, als ob man die ganze Menschheit getötet hätte." Er stockt und verhaspelt sich. Man ist still und betreten. Er fährt fort: "Also wir Muslime verurteilen diese Terroristen aufs Schärfste. Sie gehören nicht zu uns, sie sind eine Minderheit."

Ich schaue auf meinen Teller und versuche die Stille am Tisch zu hören. In mir drinnen ist es viel zu laut.

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Jahrgang 1988. Autorin des Bestsellers "Sprache und Sein" (Hanser Berlin, 2020). Bis 2013 Kolumnistin der Taz. Schreibt über Sprache, Diskurskultur, Feminismus und Antirassismus.

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