Berliner Partytram: Von Disco zu Disco

Die M10 beherbergt sie alle. Bevorzugt am Wochenende versammelt sich eine heterogene Gruppe an Fahrgästen, um in die Clublandschaft einzutauchen - oder um einfach nur zu lesen.

Schnell noch in die Partytram? Punks, Touris, Hipster fahren mit der M10, Bild: dpa

Die M10 ist mehr als eine bloße Straßenbahn. Bei Tag und - ganz besonders - auch bei Nacht pendelt sie zwischen Friedrichshain und Prenzlauer Berg hin und her und bringt die Menschen in die Clubs und Bars entlang der Strecke. Deswegen bekam die Linie den Spitznamen Partytram verpasst. Mitunter wird sie in Anlehnung an die Billigbier-Marke auch Sternburger-Express gerufen - denn ohne ein Bier in der Hand steigen hier die wenigsten ein. Dabei sind die Fahrgäste der M10 alles andere als eine homogene Partytruppe.

Die Punker

Für Punks ist die M10 wie das eigene Wohnzimmer. Kaum eingestiegen, machen sie es sich schon auf dem Fußboden vor den Türen bequem. Laute Musik aus kleinen, nicht näher zu ortenden Anlagen haben sie ebenso dabei wie ihre Haustiere, gerne in Form von großen Mischlingshunden. Es wurden aber auch schon kleine Ratten gesichtet. Haben es sich die Punker erst einmal gemütlich gemacht, wird ein Sternburg nach dem anderen geöffnet. Jeder Zusteigende wird lautstark begrüßt - wie sich das eben gehört, wenn fremde Menschen das eigene Wohnzimmer betreten. An der Warschauer oder der Eberswalder Straße steigen die Punks meist aus und machen Platz für die nächsten, die sich dann mal für 30 Minuten ein Dach über dem Kopf und ein Gefühl von Heimat wünschen.

Die halbstarken Vorortkids

Dass gleich eine Bande Halbstarker mit Wohnsitz in der Tarifzone C einsteigen wird, erkennt man beim Einfahren in die nächsten Haltestelle daran, dass von außen mit der flachen Hand gegen die Fenster geschlagen wird. Einmal an Bord der M10, rekapitulieren die Jungs der Gruppe lautstark ihre bisherigen Rekorde im Dauersaufen, während unter ihnen große Flaschen billigen Eistees mit noch billigerem Fusel versetzt kreisen. Die Mädchen halten sich derweil an lautes Kichern und Alkopops. Alles wird untermalt vom blechernen Sound, den die Handylautsprecher so hergeben. Besonders vermeintlich Mutige versuchen, auch während der Fahrt weiter zu rauchen, bis der Tramfahrer sie über das Mikrofon auffordert, das lieber sein zu lassen. Auch erste Ansätze von Vandalismus in Form vom Rütteln an Sitzen und Haltestangen oder Tritte gegen die Türen werden entsprechend vom Fahrer abgemahnt. Wenn die Kids gar nicht gehorchen oder aussteigen wollen, bleibt die Bahn auch schon mal minutenlang mit geöffneten Türen an der jeweiligen Haltestelle stehen: Zum Schluss gewinnt immer der Fahrer. Für die Jugendlichen bleibt der Trost der guten Taktung: Am Wochenende kommt die nächste Bahn auch nachts in 15 Minuten.

Die Hipster

Wer von Friedrichshain nach Prenzlauer Berg und zurück unterwegs ist, kommt um die Hipster nicht herum. Zu erkennen sind sie daran, dass sie die Kleidung ihrer Großeltern auftragen und Becks trinken. Auch sie sind auf dem Weg zu Partys und in Clubs. Da diese aber noch nicht den Weg in jeden Reiseführer gefunden haben, spricht der Hipster in der Öffentlichkeit der M10 lieber nicht darüber. Stattdessen werden die Seminare der letzten Woche rekapituliert oder die neuesten Entwicklungen der jeweiligen Medienprojekte ausgetauscht. Auch in größeren Gruppen haben die Hipster die Fähigkeit, eine Bahnfahrt schweigend zu absolvieren - indem alle auf ihre Smartphones starren.

Die Touristen

Touristen erkennt man in der M10 nicht nur an der Sprache und der Tatsache, dass sie stets im großen Pulk auftreten, sondern vor allem daran, dass sie die falsche Biermarke dabeihaben (also weder das Punker- noch das Hipster-Bier). Oder, im schlimmsten Fall, gar keins. Kann ja nicht jeder wissen, dass man in Berlin in Bus und Bahn nicht nur trinken darf, sondern dass das in der M10 geradezu eine Einstiegsvoraussetzung ist. Hauptgesprächsthemen der Touristen, wenn man sie denn verstehen kann, sind die Clubempfehlungen aus dem Lonely Planet oder dem Easy-Jet-Magazin. Dazu kommt die große Freude, in einer so großen und aufregenden Stadt zu sein, in der sogar eine Bahnfahrt unterhaltsamer ist als andernorts eine ganze Nacht in der Dorfdisco.

Die Leser

Knopf im Ohr und Buch vor der Nase - auch das gibt es nachts in der M10. Die Leser sind wohl die heterogenste Gruppe, vereint sie doch all diejenigen Menschen, die heute nicht feiern, sondern einfach nur nach Hause wollen. Diejenigen, die öfter in dieser Situation in der Bahn unterwegs ist, erkennt man daran, dass sie selbst bei den lautesten Pöbeleien und direkten Remplern nicht vom Buch oder der Zeitung aufsehen. Anders ist die Partytram für einen Feierunwütigen auch kaum zu ertragen.

Die Hochkultur-Anhänger

Um sie anzutreffen, sollte man vor ein Uhr mit der Tram unterwegs sein. Zu erkennen sind sie sehr leicht daran, dass sie nicht nur älter sind als der durchschnittliche M10-Fahrer, sondern auch besser gekleidet. Meist gehören auch die Hochkultur-Freunde zu den Touristen, denn wären sie Einheimische, würden sie den Weg zur Oper oder ins Theater entweder mit dem Auto zurücklegen oder zumindest jede andere Möglichkeit vorziehen, um die M10 zu meiden. Gesprächsthemen sind das gelungene Bühnenbild, Violin-Soli oder die geplante Ausstellungsbesichtigung des kommenden Tages. Sowie natürlich die Tatsache, dass um diese Uhrzeit eine so voll besetzte Bahn mit so vielen zumeist auch noch betrunkenen jungen Menschen in der eigenen Heimat undenkbar wäre. Und ob es wirklich so eine gute Idee war, die Tochter in dieser wilden Stadt studieren zu lassen.

Die Möbelschlepper

Zugegeben: Diese Spezies ist vorwiegend unterwegs, solange es draußen noch hell ist. Aber gerade im Sommer kommt es doch zu Überschneidungen, wenn die einen die M10 noch als Möbeltransporter und die anderen sie schon als Partytram nutzen. Gesichtet wurden schon Menschen in Begleitung von 1,40 Meter breiten Lattenrosten, Kühlschränken und Staubsaugern. Zu diesen außergewöhnlichen Erscheinungen gesellen sich Leute, die Klappstühle, Grills und Hängematten aus dem Volkspark Friedrichshain transportieren, der auf halber Strecke direkt an der M10 liegt. Wenn die Ladung und ihre Dimensionen jedoch allzu absurd für ein öffentliches Verkehrsmittel werden, muss der Tram-Fahrer durchgreifen. Das führt dann zu Durchsagen wie: "Mit dem Sofa kommen sie mir aber nicht in die Bahn."

Die Nur-nach-Hause-Woller

Je später die Nacht, desto größer die Gruppe derer, die einfach nur noch nach Hause wollen. Mit leerem Blick starren sie aus dem Fenster oder lehnen gleich ganz ihren Kopf dagegen und klappen die Augen zu. Die Party war lang, das letzte Bier in der Hand ist noch halb voll und wird es wohl heute auch bleiben. Jetzt gilt es nur noch, die richtige Station nicht zu verpassen. Aber wer kann schon in Ruhe schlafen, wenn um einen herum die Party tobt?

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.