Weltkultur aus Niedersachsen: Als die Zukunft in die Provinz kam

Seit Kurzem zählt das von Walter Gropius erbaute Fagus-Werk im niedersächsischen Alfeld zum Weltkulturerbe. Ein Besuch des Orts, von dem aus die architektonische Moderne in die Welt zog.

Bauhaus avant la lettre: Das 1911 entworfene Fagus-Werk bildet den denkbar größten Kontrast zum Fachwerk des umgebenden Ortes Alfeld. Bild: Fagus-GreCon

ALFELD | taz Paris, Köln, Alfeld. Jawoll! In einem Atemzug mit dem Seine-Ufer und Dom lässt sich das Fagus-Werk im kleinen Städchen an der Saale nennen: Weltkulturerbe, mit dem Metronom von Hannover oder Göttingen bequem in einer halben Stunde zu erreichen.

Wer das von Walter Gropius erbaute Schuhleisten-Werk ansehen will, das als Bauhaus avant la lettre in die Historie eingegangen ist, dem sei allerdings empfohlen, sich vorerst dem Rive-Gauche Alfelds zuzuwenden. Von Hannover kommend links des Flusses, mit Fachwerk, Weser-Renaissance und engen Gässchen bietet das Städtchen idealtypisch jenen geschichtlichen Hintergrund, von dem sich Gropius so vehement absetzte. Das Fagus-Werk war eine schallende Ohrfeige in das Antlitz von Alfeld. Womit die Stadt heute wirbt, das war ihr damals verpönt: "Das gehört hier nicht hin", lautete vor 100 Jahren der Tenor, als der noch unbekannte Architekt Walter Gropius den Grundstein seiner Karriere zu legen begann.

Am Gewaltigsten dürfte der Eindruck des Werkes sein, hat man sich zuvor ein Weilchen vor der Alten Lateinschule im Herzen Alfelds verlustiert: Das Fachwerkhaus droht geradezu zusammenzubrechen unter der Last seines architektonischen Schmucks. Da wimmelt es an der Fassade nur so von Figuren, die als irgendwie erbaulich galten: von Ovid über die Evangelisten bis hin zu Melanchthon. Das Bildprogramm zu entschlüsseln - es sind mehr als 100 Figuren - würde nicht Stunden, nicht Tage, sondern Wochen in Anspruch nehmen.

Dafür aber hatte der Mensch auch vor 100 Jahren schon keine Zeit: "Infolge der wachsenden Schnelligkeit der Verkehrsmittel und des ganzen Lebens muss sich heute das Auge mit der oberflächlichen Betrachtung begnügen und wird so ganz von selbst wieder auf die einfachsten sinnlichsten Eindrücke gedrängt", schrieb Gropius 1910. "Wir bewegen uns also allem Anschein nach von einem barocken Kunstpol dem antiken entgegen."

Das Fagus-Werk ist die Umsetzung dieser Worte in Stein, Stahl und Glas. Buchstäblich spiegelt es Beschleunigung: mit einer gläsernen Vorhangfassade, die unverstellt auf die Bahnlinie Alfeld-Hannover ausgerichtet ist. Die Fassade galt lange als erste "curtain wall" überhaupt - bis man die Fabrikgebäude der Firma Steiff, bekannt für ihre Stofftiere, wiederentdeckte: Die hatte Richard Steiff, eigentlich Zeichner für das Geschäft seiner Tante, bereits 1903 mit einer sehr ähnlichen Vorhangfassade entworfen. Insofern legt sich über den Auftakt der modernen Architektur, als das der Gropius Bau gilt, der Schatten eines Plagiatvorwurfs.

Unbestritten sind allerdings die ästhetischen Qualitäten des Fagus-Werks: die Ruhe und klare Linie. Ganz das Winkelmannsche Antiken-Ideal der "edlen Einfalt und stillen Größe", die, wie so oft und paradox, aus Raffinement hervorgehen. Nach innen neigen sich Lisenen aus gelbem Klinker, die den Bau in der Vertikale gliedern, niedrige Sockel aus rotem Klinker lassen ihn einen Hauch über dem Boden schweben, unmerklich verbreitern sich die oberen Fensterreihen.

Und dann die legendären Ecken: Wo der Wilhelminismus mächtige, mit groben Steinquadern verkleidete Stützpfeiler 1.000 Jahre Halt versprechen ließ, trifft beim Fagus-Werk schwerelos Glas auf Glas. Wie atemberaubend modernistisch das seinerzeit mal gewirkt haben muss, wird ersichtlich, vergleicht man es mit dem pompösen, zeitgleich gebauten Neuen Rathaus in Hannover.

Reinstes Bauhaus auch im Vestibül des Fagus-Werks: die Treppe. Der sanfte Hüftschwung, mit dem das Geländer aus Messing anhebt! Die Hand daraufzulegen käme einer Indiskretion gleich. Die Stufen, eine jede strebt dem Licht entgegen, auch hier nirgends ein Halt, nirgends ein Pfeiler, nur das Glas und weiß getünchte Brüstung: so kühl und sachlich und phantastisch zugleich, dass man nicht zögern würde, es für das Natürlichste der Welt zu halten, käme plötzlich eine jener jungen Frauen mit Wespentaille gemessenen Schritts die Treppe herabspaziert, wie sie der Bauhaus-Lehrer Oskar Schlemmer malte.

Wahrscheinlicher wäre aber, dass Ernst Greten herunterkäme, da dort oben die Geschäftsführung residiert: Das Werk ist kein Museum, sondern ein Familienunternehmen in der 4. und 5. Generation. Greten ist ein Urenkel des Firmengründers Carl Benscheidt, und noch immer werden im Fagus-Werk Schuhleisten hergestellt, wenn auch nicht mehr wie zur Gründerzeit aus dem Holz der Buchen (lat. fagus), sondern aus giftgrünem Kunststoff.

Für die Anerkennung zum Weltkulturerbe habe die Nutzungskontinuität des Gebäudes vielleicht sogar den Ausschlag gegeben, erklärt Karl Schünemann, der durch das Werk führt. Gropius habe gesagt, dass die Architektur weiter nichts als eine wertlose Hülle sei, wenn der Inhalt, wenn Menschen fehlten, die sie nutzten. Man habe also damit geworben, dass auch der Mensch zum Denkmal dazugehört, dass es sich beim Fagus-Werk um den seltenen Fall eines "lebenden Denkmals" handele, sagt Schünemann. Er weiß, wovon er spricht: Vor einem halben Jahrhundert ist er als Lehrling in die Schuhleistenfabrik eingetreten und arbeitet noch immer für das Unternehmen, jetzt im Marketing. Er erzählt das alles in einem jovialen Ton, als sitze man in seinem Wohnzimmer und gehöre irgendwie mit zur Familie.

Die ist mittlerweile recht groß. Neben Schuhleisten produziert das Unternehmen Fagus-GreCon Keilzinkanlagen, etwa für den Möbelriesen Ikea, und Funkenlöschanlagen zum Schutz von Mühlen und Getreidesilos. Rund 40 Millionen Euro Umsatz erzielt man damit jährlich, etwa 6 Millionen davon stammen aus der Schuhleistenfabrikation, heute dem kleinsten Bereich des Unternehmens. Produzierten in den 1950er-Jahren noch 500 Menschen Leisten, sind es heute nur noch 40.

Für das Fagus-Werk ist die Ausweitung des Unternehmens mit dem Maschinenbau deshalb ein Glücksfall. Das florierende Geschäft hat Inhaber Ernst Greten ermöglicht, den Gropius-Bau denkmalgerecht zu restaurieren und mit einem Museumsbereich für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Über die Geschichte des Bauwerks lässt sich dort ebenso viel erfahren wie über Schuhleisten im Besondern und die Entwicklung der Schuhmode im Allgemeinen. Man kann aber auch einfach übers Werkgelände schlendern und hier und da hineinschauen. "Jeder Tag", sagt Schünemann, "ist bei uns ein Tag der offenen Tür".

Keine Frage: Das ist ein außergewöhnliches Engagement, was da ein privates Unternehmen für die Architekturgeschichte und den Denkmalschutz auf sich nimmt. Ein Engagement, das nicht geschmälert wird durch seinen berechnenden Charakter. Denn natürlich weiß Greten, dass der Gropius-Bau als Zentralmotiv der Corporate Identity des Unternehmens zu dessen Florieren beiträgt. Auf jeder Brandschutz-Broschüre von GreCon prangt ein Bild des Gebäudes mit der Unterschrift: "Unser Hauptsitz in Alfeld - 1911 von Walter Gropius erbaut."

Das entspricht ganz der Bestimmung des Baus - Nutzungskontinuität auch hier: Firmengründer Carl Benscheidt hatte Gropius eben dafür beauftragt - mit der Architektur für sein Unternehmen zu werben. Das Fagus-Werk gehört damit zu den frühesten Beispielen der Corporate Architecture, einer Disziplin, die spätestens seit Bilbao, weil ubiquitär, auf den Hund, um nicht zu sagen: in die Provinz gekommen ist. Nur so lässt sich erklären, dass 100 Jahre nach Alfeld nun auch das Unternehmen Hamburg nachzieht: mit der Elbphilharmonie.

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