Erstaufführungen unter neuem Intendanten: Osnabrücks moralische Anstalt

Unter dem neuen Intendanten Ralf Waldschmidt legt das Theater Osnabrück eine Serie von Ur- und Erstaufführungen hin. Besonders sehenswert: Theresia Walsers neues Stück "Eine Stille für Frau Schirakesch".

Walser-Stück in Osnabrück: noch 77 Minuten bis zur Steinigung. Bild: Jörg Landsberg

OSANBRÜCK taz | Osnabrücks neuer Theaterintendant, Ralf Waldschmidt, ist ein freundlicher, schlanker Herr mit wachsender Glatze. Er war Dramaturg an Theatern verschiedener Größe und zuletzt Operndirektor in Augsburg, bevor er den Sprung ins Intendantenfach wagte. Waldschmidt wirkt konzentriert, ohne Allüren. Worauf er hinaus will, machte schon der Spielzeit-Auftakt deutlich: Unter dem Motto "Spieltriebe" präsentierte das Theater sage und schreibe 14 Ur- und Erstaufführungen.

Ein Widerspruch fällt auf: Einerseits gibt sich Waldschmidt ganz zufrieden mit der finanziellen Ausstattung, etwa 17 Millionen Euro sind es im Jahr. Andererseits wird er zornig, wenn er über Gagen spricht. "Einen Skandal" nennt er die Mindestgage, mit der sich viele Junge begnügen müssen: 1.600 Euro brutto. "Wie soll man da eine Familie gründen?", ruft er erregt. Doch wer bessere Gagen zahlen will, muss für einen höheren Haushalt streiten.

Als Leitende Schauspielregisseurin hat Waldschmidt Annette Pullen engagiert, Jahrgang 1974. Sie hat an großen Häusern inszeniert - und so ganz ist sie in Osnabrück noch nicht angekommen. Einerseits möchte sie da sein für ihr Ensemble und die Stadt, andererseits möchte sie ihre Beziehungen nicht aufgeben. Beides will sie versuchen zu vereinbaren.

Allerdings ist Pullen in Osnabrück mit Theresia Walsers neuem Stück "Eine Stille für Frau Schirakesch" eine sehenswerte Uraufführungsinszenierung geglückt. Das Stück spielt in einem Fernsehstudio, eine Moderatorin wartet mit ihren Gästen auf den Beginn der Sendung. In 77 Minuten soll in einem fernen Land, vermutlich in Afghanistan, Frau Schirakesch gesteinigt werden. Die Fernsehmoderatorin scheint entschlossen, die Hinrichtung für ihre eigenen Zwecke auszunutzen: Sie will Quote machen, sonst nichts.

Gäste im Studio sind zwei Schönheitsköniginnen, die in dem islamischen Land waren, um an einem Wettbewerb teilzunehmen. Und ein General, der mit seinen Männern eine öffentliche Toilette für Burka-Trägerinnen errichtet hat, die vom Volk aber abgelehnt wird.

Theresia Walser hat ihr Stück als "Kriegsgroteske" bezeichnet. Die Steinigung ist den Studiogästen herzlich gleichgültig, sie wollen ins Fernsehen. Jennifer Lorenz als Schönheitskönigin Gudrun will aus der grauen Vorstadt herauskommen, sie ist zu sehr mit sich beschäftigt, als dass sie Zeit hätte, sich um eine Steinigung in einem fernen Land zu kümmern.

Das Militär weiß keine Lösung, das Fernsehen beutet die Sensationsgier des Publikums aus, und die Moderatorin ist gewissenlos: Theresia Walsers ästhetische Strategie ist die der Delegitimation. Wir haben keinen Grund, uns dem Volk, dem wir angeblich helfen wollen, überlegen zu fühlen.

Es ist unser Dünkel, den Walser angreift - nicht nur das Militär und die Medien. Sie zielt auf einen gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhang: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.

Doch weiß die Dramatikerin, was zu tun wäre? Es steht gleich vorn, Walser hat es in den Titel geschrieben: "Eine Stille für Frau Schirakesch". Wir sollten innehalten. Unseren Dünkel ablegen. Unsere Selbstbefangenheit. Und beginnen nachzudenken.

Annette Pullen hat sich in ihrer Uraufführungsinszenierung eng an die Vorgaben Theresia Walsers gehalten - so kann sie den Humor und den satirischen Witz des Stücks freisetzen. Jennifer Lorenz als Gudrun spielt, wie das ganze Ensemble, brillant. Und doch ist der Zuschauer überfordert: Bei der Spielzeiteröffnung war Theresia Walsers Stück die zweite von fünf Stationen der "Route Blau", einer von fünf Theater-Marathons, die man an einem Tag wählen konnte. Die Vorstellungen gingen bis in die späte Nacht.

So sehr das Engagement der Osnabrücker zu loben ist, so klug die Zusammenstellung dramaturgisch gedacht war, fünf Aufführungen hintereinander sind zu viel. Wie bei einem zu langen Fernsehabend löscht ein Eindruck den anderen aus, am Ende weiß man nicht mehr, was man am Anfang gesehen hat.

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