Koks und Kotze: Erst mal wird gefeiert

Im "Clochard" auf der Reeperbahn finden nicht nur Punks, Penner und Alkoholiker eine Heimat. 24 Stunden in einer Hamburger Kneipe, die seit 30 Jahren partout nicht schlafen will.

Wer Cola bestellt, erntet Kopfschütteln: Im "Clochard" an der Reeperbahn, sagen die Gäste, "wird St. Pauli gelebt". Bild: Adrian Meyer

HAMBURG taz | An einem Freitag, zur Mittagszeit, müffelt der Eingang nach Urin. Der Boden ist klebrig, lange bevor die Eskapaden des Wochenendes über die Reeperbahn hereinbrechen. "Rund um die Uhr geöffnet" steht über der Tür. Daneben: "Die billige Kneipe auf der Meile". Oben, im ersten Stockwerk, scheppert Heavy Metal aus den Boxen. Die Augen gewöhnen sich nur langsam an die Dunkelheit im Raum. An den Wänden kleben Astra-Etiketten, Zeugnisse vieler leer getrunkener Flaschen. Der Dreck des Bodens frisst sich die Holzwände hoch.

Der "Clochard" schwitzt, von all dem Bier, den Tausenden gerauchter Zigaretten. Mitten im Raum wartet ein Kicker auf das nächste Spiel. Dahinter, in der dunkelsten Ecke, schummert bläulich das Licht einer Neonröhre: So sollen Junkies ihre Venen schlechter finden. Drei Punks und eine Barkeeperin mit schulterlangen, grauen Strähnen lagern am Tresen. Astra: 1,70 Euro, Korn: 90 Cent. Im Winter Schmalzbrote, gratis. Auf der Hausverbotsliste stehen Dutzende Namen, Kiez-Pseudonyme wie "Pommes" oder "Jesus". Wer diese Menschen wirklich sind, weiß hier niemand mehr.

Hier trinken am Morgen diejenigen weiter, die nie nach Hause gehen. Am Nachmittag betäuben sich die Berufszecher. In der Nacht finden hier alle eine Heimat: die Punks, die Penner, die Sauftouristen, die wirklich Betrunkenen, die neugierigen Spießer, die Kaputten, die Normalen, Alte und Junge. Wer hier bloß Cola bestellt, erntet Kopfschütteln, auch an einem Freitagmittag.

… hat 365 Tage im Jahr rund um die Uhr geöffnet. Seit 1983.

Specials: Dachterrasse, Kicker, Wettnageln, Jukebox mit Musik von laut bis hart. Im Winter werden gratis Schmalzbrote gereicht.

Wen es nicht schreckt: zurzeit werden KellnerInnen gesucht. Interessierte müssen mindestens 25 Jahre alt sein und "selbstsicher in ihrem Auftreten". Übung im Kopfrechnen ist von Vorteil. Arbeiten in Schichten zu je acht Stunden.

Die letzte Nacht im Gesicht

In einer Ecke hängen Sushi und Clarissa, vor ihnen sechs leere Astraknollen auf dem Tisch. Die letzte Nacht sitzt ihnen im Gesicht. Sie haben sich erst vor ein paar Stunden kennengelernt, hier im Clochard, "so um fünf Uhr morgens". Clarissa sagt, sie sei heute total betrunken. Sonst pflege sie die Alten im Heim. Lachend krault sie Sushis Rücken.

Clarissa will Sushi nach Hause nehmen, nach Bergedorf. "Ich will einen Typen abschleppen und weiß nicht mal wie er heißt", sagt sie. "Ich heiße Sushi, mich muss man genießen wie rohen Fisch", sagt er. Sushi ist unentschlossen: "Ich bin total pleite, ich komme nie mehr weg aus Bergedorf." Er findet Clarissa nicht attraktiv, mit dem Pickel im Mundwinkel, den großen Brüsten, den fettigen Haaren. Miss Piggy nennt er sie.

Sushi ist 29 und wirkt nüchtern, obwohl er ständig Bier trinkt. Über seinem Bizeps spannt sich das T-Shirt. Bullig lehnt der Oberkörper gegen die Wand. Sein rundes Gesicht versteckt er mit Baseballmütze und Sonnenbrille. Zeigt er die Augen, sind Krümel zu sehen, Zeugen von sechs Nächten, in denen Sushi nie länger als zwei Stunden am Stück geschlafen hat. Vor einer Woche hat er in Frankfurt alles aufgegeben, Wohnung und Job. Jetzt will er in Hamburg neu anfangen. Aber erst am Montag. Bis dahin wird gefeiert.

Miss Piggy muss alleine nach Bergedorf, denn Sushi mag lieber Gothic-Mädchen: "Die sind", sagt er, "richtig dreckig." Als Teenager hat Sushi geboxt, in der "Ritze" gar nicht weit weg vom "Clochard". Aggressionstraining, vom Psychologen verschrieben. Momentan sei er ganz friedlich. "Aber gib mir zwei Flaschen Whisky, dann steht ein anderer Mensch vor dir."

Uwe sitzt unter der Neonröhre in der dunkelsten Ecke des "Clochards". Er hat einen grauen Vollbart und nur noch wenige Zähne. Tiefe Furchen zieren seine Stirn. Aus dem löchrigen Filzschuh ragt ein langer, schwarzer Zehennagel. Fast täglich kommt Uwe her, spricht mit den Gästen. Alleine in seiner Wohnung fühlt sich der 71-Jährige nicht wohl. Die ganze Nacht habe er kein Auge zugetan, sagt er. "Ich habe gestern so viel gekifft, ich konnte einfach nicht schlafen."

Er trinke nicht mehr, sagt Uwe, kiffe nur noch. Wenig später hat er eine Flasche Bier in der rechten, eine Zigarette in der linken Hand. Uwe war mal verheiratet, "nur kurz, nicht mal sieben Jahre", hat in Kolumbien gearbeitet. Seit 25 Jahren wohnt er jetzt in Ottensen. Immer wieder verfällt er kurz ins Spanische, "¡Vamos a ver!", sagt er besonders gerne - wir werden sehen.

Drei Krebse hat Uwe besiegt, erst Lungen-, dann Hodenkrebs, schließlich ein Lungenödem. Aus der Jukebox wünscht er sich ein Lied von Queen oder Jazzmusik. Dass der Apparat beides nicht hergibt, weiß er. Überhaupt sei hier vieles nicht mehr so wie früher. "Keiner hat mehr die Kohle, um hier zu trinken." Gekifft werde auch viel weniger. Was soll aus dem Laden nur werden? "¡Vamos a ver!", sagt Uwe.

"Ich oder die X-Box"

Am Kickertisch duelliert sich "Painkiller186" mit seiner Ehefrau. Er zeigt ihr die Kneipe, in der er seine Jugend verbracht hat. In der realen Welt heißt "Painkiller186" Hermann. Sein Leben aber ist die X-Box: Zwei, drei Stunden zockt der 37-Jährige täglich, früher waren es auch mal zwölf. Daran zerbrach seine erste Ehe. "Ich oder die X-Box", habe ihn seine Ex-Frau vor die Wahl gestellt, erzählt er. Die Entscheidung fiel Hermann leicht. Seine zweite Frau, er nennt sie "Bubsi", hat mehr Verständnis. Sie zockt selbst gerne. Allerdings lieber auf der Playstation.

Früher war Hermann jedes Wochenende hier. Er kennt sie alle, die Kiez-Größen der frühen 90er-Jahre. Heute ist er meist zu Hause, wenn er nicht an der X-Box sitzt, meditiert er. Um den Hals trägt Hermann eine Kette, Yin und Yang. "Auch Tische haben Gefühle", sagt er. Die Menschen nähmen sich viel zu ernst, nichts als lächerlich sei die Gesellschaft. "Die Erde ist eine Milliarde Jahre alt", sagt er, "der Mensch wird nicht mal hundert."

Die Euphorie der Nacht greift um sich, die Gäste plärren. Der Alkohol fließt schneller und wird härter. Sushi sitzt auf der Terrasse zwischen zwei Freunden, die er tags zuvor auf dem Kiez kennengelernt hat. Der eine, kaum volljährig, mit krausem Haar und großen, runden Augen, holt ein Plastiktütchen aus der Jackentasche, gefüllt mit weißem Pulver. Mit Sushis Personalausweis baut er lange, dünne Bahnen. Sushi hebt die Bierflasche und ruft: "Lasst uns trinken auf das wichtigste Gut: die Freiheit."

Unten, auf der Reeperbahn, ziehen die Nachtschwärmer vorbei, aufgetakelt und angeheitert auf dem Weg zur nächsten Party. Auf der Großleinwand gegenüber blinken die Pixel, Videoclips werben für ein Musical im nahen Operettenhaus. Im Astra-Turm dahinter brennt in einigen Büros noch Licht. Gäbe es einen Kirchturm, er schlüge nun Mitternacht. "Du kannst auf St. Pauli leben oder du kannst St. Pauli leben", sagt Sushi. "Im ,Clochard' wird St. Pauli gelebt."

Polizei will hier niemand

Die Herrentoilette schwimmt im Urin. Jemand hat sich in die Rinne übergeben. "Total eklig", sagt einer mit Irokesenfrisur. Der Laden brummt. Am Kicker kämpfen Yuppie-Frisuren gegen St.-Pauli-Mützen, der Einsatz: Wodka und Bier. Flüsternd sucht ein Dealer nach Kundschaft. Auf den Bänken schlafen heimatlose Trinker, darunter auch, ehe sie wieder an die Bar taumeln. In einer Ecke liegt ein älterer Herr mit weißem Vollbart, die Stirn auf dem Tisch, die brennende Zigarette in der Hand.

Der "Clochard" ist voll, die Gäste sind es auch. Die Nacht verfliegt schneller, wird schwammig, irgendwann prügeln sich zwei Typen, Geschubse, eine Flasche zerbricht, das Kickerspiel ist unterbrochen. Der Barkeeper schlichtet, Polizei will hier niemand. Daneben wird ruhig weiter gekokst. Ein Mädchen im geblümten Sommerkleid tanzt auf dem Kickertisch. "Deutschland ist scheiße!", schreit irgendwer, "darum gibt es Hamburg, diese geisteskranke Stadt!" Zwei Sanitäter nehmen einen schlafenden Alten mit. Es ist sechs Uhr.

Über der Terrasse ist die Sonne schon aufgegangen, als sich Sushi die fünfte Linie Koks vom Biergartentisch zieht. Auf dem Betonboden liegen benutzte Kondome, Kotze, ein verlorenes Unterhemd. Nur wenige Gestalten hat die Nacht nicht verschluckt. Zusammen sitzen sie auf der Terrasse, kiffen und koksen. Obdachlose, Punks, Rocker. Alle teilen. Wer hat, der gibt.

Ronny, der Punk mit kahl geschorenem Haupt und meerblauen Augen, hat gerade zwei Wochen Knast hinter sich. Aus seiner Geldbörse zieht er ein Geburtsbändchen. "Ich habe ein deutsch-schweizerisches Kind gezeugt", sagt er. Am 27. Juli ist seine erste Tochter im Berner Inselspital geboren worden. Bald wolle er sie besuchen, sagt Ronny. "Aber zuerst einmal will ich Spaß mit meinen Kumpels."

Es ist 11 Uhr. Ronny erhebt sich von seiner Holzbank, steckt 30 Cent in die Jukebox. Ekstatisch schüttelt er seine Glieder, drei Punks am Tresen zappeln mit. Aus den Boxen ballern die Troopers, eine Punk-Band aus Kreuzberg: "Scheiß egal, wir würden unser Leben nochmals leben!"

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