Regisseur über Historienfilme: "Man sieht, wie barbarisch Töten war"

Ein Gespräch mit Bertrand Tavernier über seinen neuen Film "Die Prinzessin von Montpensier". Und zur Frage, warum Löcher im Boden im Historienfilm so wichtig sind.

Gute Kämpfer, aber sprachlos in der Liebe - die Herren aus der Renaissance. Bild: promo

taz: Herr Tavernier, in Ihrem Film "Die Prinzessin von Montpensier" geht es um Intrigen und Affären während der französischen Hugenottenkriege. Aber das eigentliche Thema ist ein Leitmotiv Ihres Werks: der Preis, den man dafür zahlen muss, wenn man seinem Gewissen folgt.

Bertrand Tavernier: Ja, dabei war mir das gar nicht klar, als wir das Drehbuch schrieben! Ich merkte es erst, als ich den fertigen Film sah. Der von Lambert Wilson gespielte Comte de Chabannes ist wie ein Bruder der von Philippe Noiret verkörperten Hauptfigur in meinem Film "Das Leben und nichts anderes". Weil beide ihrem Gewissen folgen, entspricht ihr Platz in der Welt nicht ihren Gefühlen. Chabannes ist obendrein durch eine Todsünde belastet: In der ersten Szene tötet er unabsichtlich im Kampf eine schwangere Frau.

Ich änderte in diesem Punkt die Vorlage der Novelle von Madame de La Fayette, weil mir deren Motivation der Figur zu schwach erschien. Also fragte ich einen Historiker nach unverzeihlichen Taten, er nannte mir drei solcher Kriegsverbrechen, obwohl es dieses Wort damals noch nicht gab: das Zerstören eines Pflugs oder eines Ofens, in dem man Brot bäckt - und das Töten einer schwangeren Frau.

Sofort wusste ich, dass mein Film damit beginnen musste: Chabannes begeht diese Todsünde, für die er den ganzen Film lang zahlen wird. Er verzichtet deswegen letztlich auf die Chance zur Flucht: Das macht ihn zur tragischen Figur, viel tragischer als in der Vorlage, und zum moralischen Gewissen des Films.

Die Prinzessin ist ebenfalls eine ungewöhnliche Figur.

Was die Prinzessin von den anderen unterscheidet, ist ihre Bereitschaft zu lernen. Sie glaubt, und ich sehe das ähnlich, dass Kultur eine Waffe sein kann, ein Rettungsboot, um in einer Welt zu überleben, in der so gut wie niemand lesen oder schreiben kann. Eine der überraschendsten Einsichten beim ersten Treffen mit dem Historiker war, dass jemand wie der Herzog von Guise mit ziemlicher Sicherheit nicht schreiben konnte und kaum lesen, obwohl er ein General war! In dieser halbgebildeten Welt bekam die Idee, eine Frau zu zeigen, die lernen will, etwas Revolutionäres.

1941 in Lyon geboren, ist einer der bedeutendsten französischen Regisseure. Er begann als Filmkritiker und Regieassistent (etwa bei Jean-Pierre Melville), ab den 1970ern inszenierte er Klassiker wie die Mediengesellschaftsvision "Death Watch - Der gekaufte Tod" mit Romy Schneider, den Krimi "Der Saustall" oder den Jazzfilm "Um Mitternacht".

Trotz der Tragödie ist Ihr Film voller amüsanter Details: Wie das Diner, bei dem die Zubereitung üppiger Aale erörtert wird.

Das habe ich von Alexandre Dumas gestohlen! Ursprünglich wollte ich da nur in zwei, drei Einstellungen vom Essen zeigen, wie scheu die frisch Verheirateten miteinander umgehen: Sie kennen sich eigentlich gar nicht und sagen kaum etwas zueinander. Also dominieren ihre Väter die Konversation: Weil sie so zufrieden mit der saftigen Mahlzeit sind, reden sie wie Händler, die gerade Millionen gemacht haben.

Ich wollte nicht einfach improvisieren, also gab ich den Schauspielern das Aal-Rezept aus Dumas "Die 45". Die Akteure hatten so viel Spaß damit, dass ich die ganze Szene drin behielt. Aber ich muss zugeben, dass alle lustigen Zeilen von Dumas sind. Es ist mein Tribut an ihn.

Ihre Inszenierung des historischen Stoffs ist erfreulich frisch und bricht mit Genrenormen, aber anders als in Ihrem finsteren Mittelalterporträt "Die Passion der Beatrice".

Ja, denn die Figuren von "Beatrice" leben in einer Zeit, als es noch keine Ironie gab. Doch bei beiden Filmen wollte ich das Gefühl erzeugen, dass die Kamera zur selben Zeit existiert wie die Charaktere, die ja nicht im Bewusstsein leben, der Geschichte anzugehören, sondern in ihrer Zeit: eben keinen "historischen" Film machen, sondern eine Zeitgenossenschaft zu erzeugen. Ich filme nicht eine vergangene Ära, sondern das, was die Figuren in dieser Ära erleben, von ihr sehen: Wir wissen nie mehr als sie.

Das ist eine Seltenheit im Historienfilm: Die meisten fühlen sich bemüßigt, die Epoche zu erklären, oft durch sehr konventionelle Mittel, etwa indem jemand erläutert, warum sich ein anderer gerade so benommen hat. Für die Leute damals wäre das aber nicht notwendig gewesen, es wird nur dem heutigen Publikum erklärt! Also erkläre ich nichts: Man sieht das Zeitalter, den Hof, die politische Situation nur durch die Augen der Prinzessin - und versteht eben nur, was sie versteht. Heute würden wir es genauso machen.

Es scheint mir ein wenig dumm, eine Epoche mit dem Wissen zu filmen, das wir jetzt darüber haben. Man darf nicht denken: "Ich setze einen Renaissance-Tisch ins Bild!", denn für die Figuren ist das kein Renaissance-Tisch. Sie wissen ja gar nicht, dass sie in der Renaissance leben! Man wird erst 30, 40 Jahre nach seinem Tod historisch.

Sie sind nicht nur einer der bekanntesten Regisseure Frankreichs, sondern auch ein wichtiger Filmkritiker und -historiker. In der "Prinzessin" zitieren sie Western wie Edgar G. Ulmers "The Naked Dawn".

Western waren meine prinzipiellen Vorbilder: Es wird ja in vielen Szenen geritten, entsprechend verwende ich die Landschaften. Meinem Kameramann zeigte ich Western von Delmer Daves wie "The Last Wagon": Wenn sich Leute durch die Landschaft bewegen, sind immer Bäume oder Steine im Vordergrund, das vermittelt, wie schwierig das Terrain zu durchqueren ist.

Der Boden ist voller Löcher und Spalten - in krassem Gegensatz zu den meisten französischen Historienfilmen. Oder der wunderbare Umgang mit Schauplätzen in Robert Parrishs "Saddle the Wind" - zugleich grausam und pastoral! In den USA hat jemand geschrieben, meine Schlachtenszene sei die beste seit "Falstaff" von Orson Welles. Das Kompliment habe ich gern angenommen!

Mit Jean-Pierre Coursodon haben Sie "50 Jahre amerikanisches Kino" verfasst, zweifellos das beste Nachschlagewerk zum US-Kino seit dem Weltkrieg. Irritierenderweise ist es nie übersetzt worden.

Doch, aber nur ins Spanische. Wir glaubten, es bei einem renommierten US-Universitätsverlag unterbringen zu können - und wurden mit der unglaublichen Begründung abgelehnt, es sei "zu intelligent"! Hätten sie wenigstens einen anderen Grund angegeben: zu teuer, zu groß! Aber zu intelligent? Das war wirklich seltsam.

Arbeiten Sie an einem neuen Projekt?

Ich hoffe es! Bei Studio Canal habe ich "Eine Reise durch das französische Kino" eingereicht, eine Dokumentation in der Art von Martin Scorseses "Journey Through the American Cinema". Ich warte noch immer auf die Antwort: Heute stehen wir vor sehr mächtigen Gruppen wie Bettler vor einer Kirche. Erst wenn uns die reichen Lehnsherren von Pathé oder Studio Canal ein Stückchen Fleisch zuwerfen, können wir weitermachen!

Gibt es Ihre Frühwerke aus den Sechzigern noch? Sie sind ja nicht glücklich damit.

Ich hoffe, sie bleiben verschollen, sie sind wirklich nicht gut. Furchtbar kindisch, auf eine dumme Art vom US-Kino beeinflusst. Meine Frau sagte damals: "Du musst erwachsen werden!" Sie hatte recht. Man muss das Leben lernen, bevor man Filmemacher werden kann. Das Gefühl beschleicht mich öfter im Gegenwartskino: Dass ich Filme von Menschen sehe, die viel über Technik wissen, aber nichts über das Leben. Sie machen tolle technische Sachen, aber wie zum Beispiel mit Gewalt umgegangen wird …, wie in einem Videospiel!

Dagegen ist ein Film wie "Saddle the Wind" trotz mancher Makel zutiefst bewegend: Die Haltung zur Gewalt ist unglaublich stark und moralisch. Man sieht die Aufregung, die sie erzeugt, wie jemand durch Brutalität zum Helden wird. Aber wie die Gewalt selbst gezeigt wird, ist hart und tut weh: Wenn einer getötet wird, rollt er noch im Dreck, das dauert fünf, zehn Sekunden, in denen man spürt, wie grauenvoll das ist.

Aber heute sterben 50 Menschen auf einen Schlag, ohne dass jemand leidet. Vielleicht werde ich alt oder altmodisch, aber da beschleicht mich oft ein unangenehmes Gefühl - aber es gibt Ausnahmen wie Clint Eastwood, Paul Thomas Anderson, die Coen-Brüdern oder Steven Soderbergh.

Auch in der "Prinzessin" zeigen Sie die Grausamkeit der Gewalt.

Ja, ich zeige die Konsequenzen! In den Schlachtszenen sieht man, wie barbarisch das Töten war. Das ist notwendig, es gibt den Figuren erst Farbe: Man sieht, mit welcher Leichtigkeit der Prinz von Montpensier kämpft - und dann, wie er sprachlos vor einem Mädchen steht und nicht einmal "Ich liebe dich" herausbringt. Das finde ich sehr bewegend: Man merkt, dass er nicht erzogen worden ist, um damit umzugehen, aber er weiß, wie man tötet.

Er wird seine Frau respektieren und sie nicht vergewaltigen, was damals viele Ehemänner taten. Doch seine Leidenschaft wird er nie ausdrücken können. Das hat mir die Figur sehr nahe gebracht. Es hat etwas Tragisches.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.