Der Reisejunkie: "Ich bin gern ein Fremder"

"Ich will weg, will im Zug sitzen, will fliegen, will fliehen", sagt der Vater geschädigte Reporter Andreas Altmann.

Fenweh..... Bild: dpa

taz: Herr Altmann, für Ihre früheren Bücher sind Sie kreuz und quer durch fremde Welten gereist. Bei Ihrem aktuellen Buch geht es "nur" um Sie und Ihre Scheißjugend, um Ihren verhassten Vater und Ihre Geburtsstadt..

Andreas Altmann:

… Geburtsfehler …

den Gnadenort Altötting. Sind Sie nach dieser Generalabrechnung endlich im eigenen Leben angekommen?

Hoffentlich nicht. Ich käme mir ja vor wie eine Frucht, die reif ist und dann anfängt zu faulen. Vor 30 Jahren hatte ich zum ersten Mal die Idee, über meine Jugend zu schreiben. Ich brauchte viel Zeit, 20 Jahre als Reporter, um das schreiberische Können zu erwerben, damit ich nicht als ambulanter Tränensack abstürze. Damit kein Alt-Achtundsechziger-Heulsusenbrevier dabei herauskommt.

Der 62-Jährige ist Reiseschriftsteller und Berufsreisender. Er zuckelte mit dem Zug durch Indien, fuhr auf dem Dach eines Lasters durch Afrika, ging zu Fuß von Paris nach Berlin. Mit 38 Jahren wurde er Reporter. Vorher studierte er Jura (zwei Wochen) und Psychologie (vier Wochen), wurde am Salzburger Mozarteum zum Schauspieler ausgebildet. Er war Nachtportier, Buchclubvertreter, Taxifahrer. Altmann machte 20 Jahre lang Therapien. Sein aktuelles Buch über seine "Scheißjugend" mauserte sich zum Bestseller. Für eine Äthiopien-Reportage gewann er den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Andreas Altmann lebt in Paris. www.andreas-altmann.com

Sondern was?

Im Buch sollte der Rotz drin sein, dass man sieht, dass ein Kind sich wehrt und um sein Überleben kämpft. Das ist aber keine Katharsis. Mein Vater, der Exnazi, und meine schwache Mutter sind Teil meines Lebens. Heute bemitleide ich die beiden, die so hochkarätig ihr Leben verpfuscht haben.

Aus Altötting, diesem "Provinzloch mitten in Bayern", mit 18 Jahren abzuhauen, heißt noch lange nicht, später einmal Berufsreisender zu werden. Gab es eine Initialzündung zum Reisen?

Als ich Jugendlicher war, gab es diese Fernsehsendung "Die Globetrotter". Zwei französische Journalisten, die durch die Welt fuhren. Das hat mir wahnsinnig gefallen, die Ferne, fremde Sprachen, Frauen, Abenteuer. Im Buch beschreibe ich kurz die Szene, wie ich nach acht Monaten im Zen-Kloster in Japan durch Südamerika reise. Im Fond eines Wagen habe ich gewagt auszusprechen, dass ich reisen und darüber schreiben will.

Klingt nach Erweckungserlebnis.

Wahrscheinlich hat sich der Wunsch jahrzehntelang aufgestaut und ist irgendwann rausgekommen, der Weg vom Bauch bis zum Kopf ist weit. Damals war ich 34 Jahre alt. Aber schon als Junge war ich sehr neugierig und habe alles untersucht, auch die Handtasche meiner Mutter. Vielleicht bin ich deshalb Reporter geworden. Chronische Neugier.

Ihre Karriere als Reisereporter begann noch einmal vier Jahre später. Von einem "Furz", wie Sie selbst schreiben", wurden sie über Nacht zum "GEO-Reporter". War das Ihre Lebensrettung?

Ich bin ja der Prototyp des Spätentwicklers. Sogar körperlich hat es gedauert, bis ich mich als Mann entwickelt hatte. Ich war so verwirrt durch die Kriegszustände zu Hause. Aber ich wusste schon früh, ich will nicht heiraten, keine Familie haben, den ganzen bürgerlichen Ramsch nicht. Ich wusste, dass ich für einen bürgerlichen Beruf nicht tauge.

Inzwischen sind Sie die meiste Zeit des Jahres unterwegs. Sind Sie auf der Flucht?

Ich bin bekennender Flüchtling. Ja, ja, ja, natürlich flüchte ich vorm Grind des Alltags. Ist denn der Stubenhocker der neue Held? Ich bin gern Fremder. In der Fremde bin ich achtsamer, ich lebe intensiver und sensibler. Ich bin wie ein Octopus, ich will, wie Kinski sagt, gefickt werden in meinem Kopf. Ich will den Thrill, ich muss in die Welt.

Reisen sei Ihr zweites Leben geworden, schreiben Sie in Ihrem Scheißjugend-Buch, "ein anderes, ein für die Plattheit des Alltags unerreichbares". Was sind das für Plattheiten?

Ich bin ja in keiner germanischen Einehe gefangen. Ich versuche auch in Paris, wo ich wohne, so weit wie möglich dem Alltag zu entgehen. Aber da ich streng ungläubig bin, glaube ich, dass ich nur dieses eine Leben habe und von dem Wahnsinn, den das Leben bietet, ein kleines bisschen erfahre, wenn ich mich anstrenge. Ich bin wie ein Junkie. Weil ich schon so viel gesehen und erlebt habe, muss die Dosis immer stärker werden.

Ist Tourist für Sie ein Schimpfwort?

In Mauretanien fragte mich mal ein Zugschaffner "Sind Sie Tourist?" - "Non, je suis voyageur, ich bin Reisender." Und der Mann antwortete: "Ach, nur Reisender." Der Tourist hat Geld, der Reisende nichts außer seinem Rucksack. Mit den Jahren habe ich gemerkt, dass ich das Reisen auch nicht erfunden habe. Natürlich bin auch ich Tourist. Ich weiß inzwischen, dass die Urbedeutung des Wortes Tourist von "sich drehen" kommt. Man dreht sich in verschiedene Richtungen, um zu sehen. Der normale Tourist dagegen dreht nur seinen Bauch um, damit er auch von hinten gebräunt wird.

Vor zehn Jahren haben Sie in der taz gegen Abenteuerreisende mit ihrer Vollkasko-Mentalität gewettert. Haben Sie allein das Recht zu definieren, was ein Abenteurer ist?

Überhaupt nicht! Ich werde ja schon schwindlig, wenn ich ein Dreimeterbrett hinaufsteige. Der Messner ist ein Abenteurer. Oder einer, der barfuß und ohne Sonnenbrille mit seinen 14 Eseln zum Nordpol oder Südpol geht. Ich habe nur die Chuzpe, mich in Situationen zu begeben, in die sich andere Leute nicht hineinbegeben.

Sie haben auch über die Demokratisierung des Reisens abschätzig geschrieben. Darf nicht auch Otto Normalreisender mit einem Veranstalter zwei Wochen durch Kambodscha touren?

Ich will mich nicht moralisch überheben, aber schon ein bisschen stänkern und provozieren. Aber das ist ja schon mal was, wenn der Tourist sich in die Welt hinausbewegt und sich nicht für drei Wochen über der Costa Brava abwerfen lässt, um am Strand zu liegen und abgefüllt zu werden. Ich will die Leute anspornen, sie anschubsen. Damit das Träge aufhört, damit sie aufwachen.

Ist eine Pauschalreise für Sie der größtmögliche anzunehmende Unfall?

Nein. In meinem Buch "Gebrauchsanweisung für die Welt" [erscheint 2012, d. Red.] kommt eine Szene in China vor, wo eine Gruppe Achtzigjähriger im Kleinbus und mit Führer unterwegs ist. Die waren unheimlich neugierig, das finde ich toll. Für Achtzigjährige ist es viel schwieriger, allein zu reisen. Und dann schreibe ich über Rucksacktouristen, die Glotze schauen. Nur ein Kriterium soll gelten: Ist ein Mensch neugierig, will er Leute kennenlernen, will er sein Leben bereichern? Dann ist es vollkommen egal, ob er in der Gruppe reist oder allein.

"Eine Reisebeschreibung ist in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch, nicht für die Reise", schrieb Ignaz Wrobel alias Kurt Tucholsky. Hat Tucholsky recht?

Das ist natürlich ein Hieb auf mich. Wenn es so wäre, wäre es traurig. Aber ich erfahre von Lesern, dass sie Dinge entdeckt haben durch meine Bücher und jetzt anders, offener reisen wollen. Wenn jemand glaubt, dass ich mich nur dauernd um meinen eigenen Arsch drehe, dann erzählt das etwas über den Kritiker und nicht über das Buch.

Kritiker werfen Ihnen ein übermächtiges Ego vor: "In erster Linie geht es Altmann um Altmann", wie er sich durchschlägt (per Autostopp), wie er sich fühlt (Durchfall). Ein anderer formuliert: "Altmann führt sein Ego an der Leine." Klingt nach Narzissmus, nach Ich, Andreas Altmann, und die Welt.

Ich halte mich nicht für supertoll, ich bin nicht Shakespeare. Narzisstisch schreiben ist etwas anderes. Aber sehr viele Medien behandeln mich gut. Viele Leute finden sogar, dass ich lustig bin, Selbstironie habe. Aber natürlich gibt es Leute, die schreiben, ich sei der letzte Asphaltliterat, der nur von sich selbst redet, und somit kein Leser erfährt, dass es im Buch gerade - ein Beispiel - um Indien geht. Mit 20 Jahren Therapie denke ich mir, Fuck, der Nörgler hat eben ein Problem. Wenn ich eine Celebrity wäre, könnte ich zwischen zwei Buchdeckel hineinscheißen. Aber ich bin keine Celebrity, ich will einfach nur den Leser dazu verführen, dass er das Buch mit viel Freude liest.

Sie zitieren im Vorwort Franz Kafka: "Ich glaube, man sollte überhaupt nur noch solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen." Warum müssen Bücher wehtun?

Ich mag nicht die Silikonbusengeschichten von Frau Katzenberger und will nicht wissen, dass Heidi Klum ihre Titten links Karl und rechts Franzi nennt, sondern ich will etwas vom Reichtum der Welt erfahren. Ich will bewegt, mitgerissen, erfüllt werden. Der Leser hat die Deutungshoheit, sobald der Autor das Buch loslässt. Bukowski sagte: "Die Leute ziehen sich eine Zeile aus dem Gedicht raus, der Rest geht ihnen am Arsch vorbei."

"Ich muss an Männern und Frauen vorbei, nicht an Flora und Fauna", schreiben Sie in Ihrem Paris-Berlin-Wanderbuch. Sind Sie ein Menschenfischer?

Ja sicher, weil ich überhaupt nichts von Natur verstehe. Ich will immer Storys, ich erzähle Geschichten von Leuten und auch ein bisschen von mir, wie ich dies reflektiere. Ich als Leser mag auch gern, wenn der Schreiber über sich redet. Nur darf er nicht als Protzarsch daherkommen, sondern muss Ironie haben und auch zeigen, wie er sich mal blamiert hat und von einer Sache nichts versteht.

Sie treffen die frisch hüftoperierte Curieta im Armenviertel von Bogotá, die Voodoo-Priesterin Marian in New Orleans, die Hure Nancy im mexikanischen Nuevo Laredo. Laufen Ihnen die Protagonisten Ihrer Geschichten so einfach zu?

Ein Banker riecht Geld, eine Hure riecht Kunden, und ich rieche halt Storys. Ich habe etwas, was man in Amerika social skills nennt. Ich kann gut mit Leuten. Unterwegs oute ich mich nie als Reporter, denn für Reporter gibt es zwei Gefahren: Entweder die Leute blasen sich auf und dramatisieren, oder sie schweigen, weil sie Angst haben. Nein, ich bin ein Reisender, ein Depp, der gerade da herumsteht. Ich frage die Leute ja nicht aus, um sie zu denunzieren, sondern ich bin angerührt von dem Leid, das Menschen ertragen müssen, ich will wissen, wie Menschen mit dem Druck der Armut umgehen.

Über die attraktive Natur, zum Beispiel in den Anden, zu schreiben, reizt Sie überhaupt nicht?

Ich bin wie jeder Mensch fasziniert von der Natur. Deswegen mache ich mich im Südamerika-Buch lustig über die weißen Schnarchsäcke. Wir fahren an den großen Naturwundern der Welt vorbei - und sie schnarchen! Ich habe das moralische Recht zu sagen: "Was bist du für ein Nachtwächter, dass du dieses Geschenk, das dir die Welt gerade gibt, verschläfst?!"

Warum streifen Sie nicht mal durch Paris und schreiben Ihre Erlebnisse auf? Ist es zu nah, zu langweilig?

Ich habe den Magnum-Fotografen Harry Gruyaert - einen Belgier, der auch in Paris lebt - gefragt, warum er nie Paris fotografiere. "In Paris bin ich blind", sagte er. Er hat es zu oft gesehen. Außerdem habe ich so viel Geld investiert, um drei Fremdsprachen zu lernen. Ich will weg, will im Zug sitzen, will fliegen, will immer fliehen.

Auf eine Frage haben Sie bestimmt noch gewartet: Was ist Ihr nächstes Ziel?

Ich werde für ein neues Buch nach Palästina und in den Gazastreifen reisen. Aber es wird keine politische Analyse werden. Ich will palästinensische Männer und Frauen treffen und von ihrem Leben erfahren und darüber berichten.

Sie sind jetzt 62 Jahre alt und allem Augenschein nach sehr rüstig. Was wollen Sie mit 80 Jahren machen? Die Welt mit einer Krücke oder einem Rollator durchqueren?

Ich werde, wie alle Männer dieser Welt, weniger mannhaft sein. Ich weiß nicht, ob ich mir das Reisen mit 80 noch zumuten möchte, weil es enorm viel Kraft und Stress kostet. Ich hatte dreimal Malaria, zweimal Dengue-Fieber, eine unbekannte Viruskrankheit. Ich könnte mir vorstellen, in Südostasien - Vietnam, Kambodscha, Thailand - zu leben. Das Eck finde ich wegen seiner angenehmen Oberflächlichkeit sehr verführerisch. Ich bin ja ein halber Buddhist. Zu mehr reicht es nicht. Ich mag den Swing in diesen Ländern, die Leichtigkeit im täglichen Umgang miteinander. Aber egal wo: Ich will innig leben. Bis zum letzten Schnaufer.

Buchsprechung Scheißjugend.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.