Familiengeschichten
Ein schwer erträgliches Erbe

Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hilft in einem Seminar den Kindern und Enkeln von NS-Tätern beim Aufarbeiten
TÄTERFORSCHUNG Historiker der KZ Gedenkstätte Neuengamme helfen Kindern und Enkeln von NS-Funktionären, die Taten ihrer Angehörigen während der NS-Zeit aufzuarbeiten. Die Seminare sind gefragt – und die ersten ihrer Art

VON MART-JAN KNOCHE

Der Abend dämmert schon, da verlassen zwei Dutzend Gestalten das einstige Konzentrationslager Neuengamme. Sie trotten über den Appellplatz, treten im Wind durch das Lagertor zu ihren Autos, die vor dem Jean-Dolidier-Weg 75 parken, und fahren davon. Still sind die Kinder und Enkel der Täter. Nach sieben Stunden ist ihr „Rechercheseminar zur Konfrontation mit Familiengeschichten“ vorüber. Nur eine Teilnehmerin steht noch oben im Seminarraum und weint.

Oliver von Wrochem ist bei ihr. Der Gastgeber an diesem Herbsttag ist ein freundlicher dünner Herr in Sakko, Jeans und Schuhen mit silbernen Schnallen. An diesem Morgen um zehn hat er etwas Neues begonnen im deutschen Gedenkstättenwesen der Nachkriegszeit. Und um kurz nach fünf wartet nun die erste knifflige Aufgabe: Wie kann er die schluchzende Frau trösten? Wozu ihr raten, wenn der Vater ein SS-Mann war und dieses Erbe schwer erträglich ist? Er ist ja Historiker, kein Therapeut.

Oliver von Wrochem, 41, leitet seit Januar 2009 das Studienzentrum in der KZ Gedenkstätte am Ostzipfel Hamburgs. Elf Monate nach seinem Amtsantritt hat er in Neuengamme eine feste Anlaufstelle für Nachkommen von NS-Tätern eröffnet. Er glaube an einen neuen Trend in der deutschen Erinnerungskultur, sagt von Wrochem. „Die Nachkommen wollen ihrer Geschichte nicht mehr entfliehen.“ Bislang hätte ihnen die Möglichkeit darüber zu sprechen gefehlt. Und nein, seine Workshops für Bürger, die die Taten ihrer Ahnen erforschen wollen, „sollen keine therapeutischen Angebote sein“, sagte er. Aber jetzt fließen Tränen vor ihm, und der Historiker, selbst erschöpft, hört zu.

Mutig wird mancher Kollege dieses Angebot nennen, das erste dieser Art in einer der rund 170 NS-Gedenkstätten im Land. Warum erst jetzt, 64 Jahre nach Kriegsende, in Deutschland solch ein Angebot geschaffen wurde, werden sich die einen fragen. Warum die Deutschen noch immer ein solches Angebot brauchen die anderen.

Während der NS-Zeit wurden im KZ Neuengamme mindestens 42.900 Menschen durch Schwerstarbeit ermordet. Halbjährlich lädt von Wrochem nun die Nachkommen der Täter auf das Gelände, um ihnen Recherchestrategien zu zeigen und sie aus dem Schweigen ins Gespräch zu führen. Betroffene jedenfalls, sagt von Wrochem, gebe es „sehr viel mehr als wir alle glauben“. Hier im einstigen Volk der Täter.

Zum ersten Seminar kamen doppelt so viele wie erwartet. Vorhin gingen sie in die Bibliothek der Gedenkstätte, wo rund 13.000 Bücher vor ihnen in den Regalen standen. Und unter Fachgebiete I, „Folgen der NS-Herschaft“, Punkt II, „Medizin und Psychologie (Opfer, Täter, Nachkommen)“, stand auch das Buch, mit dem es für den Teilnehmer Malte M. vor drei Jahren begann, das Fragen und Suchen auf Teufel komm raus.

Ein Buch, das Malte, Jahrgang ’71, „jedem hierzulande nur empfehlen kann“. Der Titel – seit 2002 in sechs Auflagen erschienen – klingt wie der Wunsch jedes deutschen Enkels: „Opa war kein Nazi“. Seit Jahren sei er politisch links, sagte Malte, „und trotzdem habe ich in der eigenen Familie das am nächsten Liegende übersehen.“ Opa war ein Nazi. Malte geht es wie vielen Teilnehmern. Opa? Schneidergeselle sei der gewesen, erzählten die Familienmythen. Er fand dann heraus, dass Opa auch SS-Mann war. Jetzt forscht der 38-Jährige und sieht „in der Unterstützung unseres Suchens auch eine Aufgabe der Gedenkstätten“.

Afrokrause, flammenrote, rentnergraue, braune und strohblonde Haare schmückten die Seminaristenköpfe, weiße Haut und schwarze, alt und jung sitzen in diesem Seminar beisammen, Damen wie Herren. Einer in glattem Anzug und Krawatte, wie ein Nachrichtensprecher, andere in abgetragenen Jeans, wie pensionierte 68er, in Sporthosen, wie Supermarktkassierer, Sportlehrerinnen, wie die eigenen Nachbarn.

„Wir sind ja nicht losgegangen, die kommen von selber.“ Wie ein Seismograf für die Befindlichkeiten der Nachkommen wirkt Reimer Möller, bärtiger Archivar der Gedenkstätte. „Seit 2005“, sagt er, „erhalte ich immer mehr Anfragen“. Weil die Täter heute fast alle gestorben seien und die Last des Schweigens gebrochen sei. Jetzt würden sich die Nachgeborenen intensiver mit ihren familiären Verstrickungen in die NS-Gesellschaft beschäftigen.

Anzeichen dafür finden sich nicht nur in Neuengamme: „Die Anfragen von Täter-Nachkommen haben in den letzten drei, vier Jahren zugenommen“, sagt auch Sabine Stein, Archivarin der KZ Gedenkstätte Buchenwald, Thüringen. „Die Anfragen kommen öfter als früher“, sagt Dirk Riedel, Historiker an der KZ Gedenkstätte Dachau, Bayern. „Tatsächlich haben Anfragen in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Bernd Horstmann, Kustode an der KZ Gedenkstätte Bergen-Belsen, Niedersachsen. „In den letzten Jahren haben wir verstärkt Anfragen erhalten“, sagt Horst Seferens, Historiker an der KZ Gedenkstätte Sachsenhausen, Brandenburg.

Überall dieselben Antworten: Niemand könne empirische Daten liefern. Die Enkelgeneration vor allem forsche. Was ja begrüßenswert sei, da die Deutschen zwar im öffentlichen Leben aufarbeiten, aber nicht im eigenen Familienalbum. „Schwer vorstellbar wäre sowas bei uns“, hört man, die Perspektive der Häftlinge stünde im Vordergrund, und überhaupt sei es schwierig, den Täter-Nachkommen zu helfen. Zu viele Akten zerstörte die SS, bevor sie die Konzentrationslager verließ, die deutsche NS-Forschung habe sich mit Täter-Biografien wenig beschäftigt.

Vorhin im Seminar hingen die Nachgeborenen an den Lippen des Archivars Möller, der ihnen die Antworten ausspuckte, als trage er sein Archiv im Kopf herum. Ein Beamer warf gerade den Kommandanturstab des KZ an die Wand. Was denn ein Blockführer gewesen sei, fragte da ein Teilnehmer, was, wenn Vater einer…

„Ein Block“, gab Möller zu Protokoll, „ist ein Teil eines Hauses. Zirka 30 Blockführer gab es in Neuengamme. Kleine Lichter in der SS-Lagerhierarchie. Aber ganz nah dran an den Inhaftierten. Die Berufsgewalttäter.“

Wo man die Unterlagen zu Entnazifizierungsverfahren finde, fragte jemand. Gerichtsakten, Prozessprotokolle, Anklageschriften, die verraten, für wie schuldig die Befreierjustiz einen Verwandten hielt. „Sie müssen wissen, wo die betroffene Person zwischen 1948 und 1951 gewohnt hat“, sagt Möller, „dort wenden sie sich an das Staatsarchiv des jetzigen Bundeslands, die suchen ihnen alle Unterlagen raus.“

„Was für eine Uniform, Herr Möller, ist das auf diesem Foto?“ Eine junge Frau reichte ihren schwarz-weiß porträtierten Opa herüber. Möller beäugte ihn. „SS. Ein Unterscharführer. Kein KZ-Wächter. Die hatten Totenköpfe am Kragen, er trägt SS-Runen.“ – „Und was hängt an seiner Brust?“ – „Der sogenannte Gefrierfleischorden, Winterschlacht 1941. Im November und Dezember war er an der Ostfront. Frühestens 1942 wurde das Foto aufgenommen.“

Im Untertitel des Seminars steht in Klammern die Frage: „Und was ist mit den Opfern?“ Von Wrochem sagt: „Ab dem Frühjahr werden wir auch Seminare für Nachkommen von NS-Opfern anbieten.“

Der Abend dämmert schon, da steht Oliver von Wrochem mit der weinenden Tochter eines SS-Manns oben im Seminarraum, während Beate B. das einstige KZ Neuengamme verlässt. „Meinen Vater suchten im Mai 1945 alle Alliierten“, sagt Beate. Sie war heute die älteste. 1937 geboren, zierlich, flammenrote Haare. „Ich wuchs im besetzten Frankreich auf, in Lyon. Kennen Sie das Hôtel Terminus?“ Damals Hauptquartier der Gestapo. Ja, Klaus Barbie, sagt Beate, der „Schlächter von Lyon“, der den Résistance-Anführer Jean Moulin folterte, sei der Chef ihres Vaters gewesen.

Bei ihr Zuhause liegen noch Gegenstände, die sie lange schon zurückgeben will. „Ein feiner Mantel, ein Ölgemälde der Lyonaiser Landschaft, Stiefel.“ Auch wenn sie nicht wertvoll seien, sie wolle die geraubten Erbstücke nicht behalten. „Ich kann nur kein Französisch“, sagt die 72-Jährige. Im Seminar habe sie in einer Datenbank eine Zeitschrift von Résistance-Kämpfern gefunden, die noch heute in Lyon erscheint. Sie hat eine Frau im Seminar kennen gelernt, die ihr einen Brief übersetzen will. „Ich möchte, dass die Rückgabe nicht billig rüberkommt.“ Es wäre ja „wenigstens eine kleine Wiedergutmachung.“

„Dann fühlen Sie sich schuldig für die Dinge, die ihr Vater getan hat? Obwohl sie damals erst...“

„Ja.“

Aber darüber sprechen sie morgen. Und dann wieder im Frühling. Alle sechs Monate ab heute.