Flucht aus Nordkorea: Von der Welt vergessen

Moon Kyeong Geun war privilegiert, Ji Seong Ho wäre beinahe verhungert. Beide flohen unter Lebensgefahr aus Nordkorea, um zu leben.

Versuchte, Kohle zu klauen, um sie gegen Essen zu tauschen: Ji Seong Ho. Bild: Malte E. Kollenberg

SEOUL taz | Moon Kyeong Geun und Ji Seong Ho teilen viele Gemeinsamkeiten. Beide sind sie in Nordkorea geboren. Beide im Jahr 1982, dem angeblichen Geburtsjahr des "großen Nachfolgers" und neuen Herrschers in Pjöngjang.

Seong Ho und Kyeong Geun sind vor dem Regime geflohen. Nach Südkorea. Dort haben sie Jura studiert, begannen sich für Menschenrechte und gegen das Regime in ihrer Heimat einzusetzen. Beide arbeiten bei Radiosendern, die über das Unrecht in der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK), wie ihre Heimat offiziell heißt, aufklären. Auch wenn sie den Süden schätzen gelernt haben, ihre Heimat bleibt der Norden, und dorthin wollen sie beide später zurückkehren, wenn das Kim-Regime Geschichte ist.

All diese Gemeinsamkeiten überraschen, ist doch ihr Leben bis zur Ankunft in Südkorea gänzlich unterschiedlich verlaufen. Wie der junge Diktator Kim Jong Un ist auch Moon Kyeong Geun in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, als Sohn des Fußballnationaltrainers. "Meine Familie hatte einen ungünstigen Klassenhintergrund. Gute Leistungen im Sport waren der einzige Weg, zu Anerkennung zu gelangen." Bei Auswärtsspielen wurde seinem Vater klar, dass es für Nordkorea keine Zukunft gibt.

Aber ohne Familie, die das Regime bei seinen Auslandsreisen vorsorglich in Pjöngjang festhielt, kam für den Vater eine Flucht nicht in Frage. Der Gedanke jedoch blieb, trotz eines für nordkoreanische Verhältnisse sorgenlosen Lebens. Aufgewachsen ist Moon Kyeong Geun im Viertel Pyeongchon, einem bevorzugten Wohngebiet der ohnehin privilegierten Hauptstadt. Palastwachen berichteten über die ausschweifenden Partys der Führungsclique im nahen Regierungsviertel.

Eines Tages, im Jahr 2003, fasste die Familie endgültig den Entschluss: Flucht nach Südkorea, Flucht in eine bessere Zukunft, denn auch über das rapide Wachstum in Südkorea wusste Pjöngjangs Mittelschicht damals längst Bescheid. "Die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, nichts dagegen tun zu können; nirgends eine Chance, etwas an den Verhältnissen zu ändern, und von der Welt ausgeschlossen", das seien die Gründe gewesen, warum die Familie den gefährlichen Schritt wagte, fasst Kyeong Geun zusammen.

"Wir wurden unsichtbar"

Sein Vater war Nordkoreas Fußballnationaltrainer: Moon Kyeong Geun. Bild: Malte E. Kollenberg

Unter allerlei Vorwänden löste Familie Moon den Haushalt auf und zog in eine kleinere Wohnung in einer Gegend, in der sie niemand kannte. Der Hausrat wurde verkauft, um das Geld für die Flucht zusammenzubekommen, persönliche Gegenstände unter dem Vorwand der zu kleinen Wohnung bei Verwandten untergebracht. "Wir wurden unsichtbar", erinnert sich Kyeong Geun.

Nur mit einem Rucksack ging es los Richtung Grenze. "Wenn man erwischt wird, kann man sagen, dass man in China nur etwas zu essen suchen wollte, und kommt mit einer kleinen Strafe davon. Wer seine ganzen persönlichen Sachen mitschleppt, wird sofort wegen Republikflucht angeklagt", sagt Moon.

Mit Beziehungen, aber ohne den sonst üblichen Passierschein erreichte die Familie die chinesische Grenze. Ein sogenannter Broker übernahm von dort gegen ein buchstäbliches Vermögen die Formalitäten. Wer wie die Familie Moon genug bezahlt, bekommt ein leicht zu überquerendes Flussstück beschrieben und auf der chinesischen Seite ein Fluchtauto mit ortskundigem Fahrer. Wer kein Geld hat oder den falschen Broker trifft, wird von den Grenzern nicht selten erschossen oder kommt im Strom des Grenzflusses um.

Fast wäre es Ji Seong Ho so ergangen. Doch sein Leidensweg beginnt viel früher, am 7. März 1996, während der großen Hungerkatastrophe in Nordkorea, die bis zur Jahrtausendwende etwa zwei Millionen Menschen das Leben kostete. Die öffentliche Ordnung ist da längst zusammengebrochen. Weil er Hunger hat, versucht Ji von einem Zugwaggon Kohle zu stehlen, um sie gegen Nahrungsmittel zu tauschen. Dabei fällt er vor Hunger in Ohnmacht, gerät unter einen rollenden Zug. Die linke Hand und der linke Fuß werden abgetrennt.

Haustiere essen besser als Nordkoreaner

Was schon in Ländern mit entwickelten Gesundheitssystemen eine aufwendige Notoperation nach sich zieht, gleicht in Nordkorea fast einem Todesurteil. Ji ruft um Hilfe, Anwohner finden ihn und bringen ihn ins Krankenhaus. Bereits nach einer Woche wird er wieder entlassen. Im Krankenhaus in seiner Heimatstadt Hoeryeong können die Ärzte über eine notdürftige Grundversorgung hinaus nichts mehr für ihn tun.

Im Jahr 2010 hat die Anzahl nordkoreanischer Flüchtlinge in Südkorea die 20.000 durchbrochen. Seit 2006 kommen jährlich stabil mehr als 2.000 hinzu. Durchschnittlich zwei Monate verbringen sie in einem Eingliederungszentrum. Die Hälfte aller Flüchtlinge leidet an posttraumatischen Belastungsstörungen. Die Arbeitslosigkeit liegt mit 30 bis 40 Prozent mehr als zehnmal so hoch wie bei Südkoreanern. Schätzungen gehen von 15.000 bis 150.000 Flüchtlingen in China aus. In ganz Europa leben rund 2.000 nordkoreanische Flüchtlinge, rund 1.000 davon in Großbritannien.

Hoeryeong ist eine 130.000 Einwohner zählende Stadt in der Provinz Hamgyeongbuk-do in der nordöstlichsten Ecke des Landes. An Tristesse ist die Gegend zwischen China, Russland und dem Pazifik kaum zu übertreffen. Eine Art Sibirien Nordkoreas. Nur 20 Kilometer vor den Toren der Stadt liegt Lager 22, das größte Konzentrationslager des Landes.

Doch selbst bis hier gelangen inzwischen südkoreanische Videos und Gerüchte über Chinas Wohlstand. All das will Ji Seong Ho mit eigenen Augen sehen. Mit einem Freund macht er sich im Frühjahr 2000 auf den Weg ins Nachbarland.

"In China hatten die Menschen Haustiere, die besser gegessen haben als die meisten Nordkoreaner", erinnert er sich. Vier Wochen bleiben die beiden. Wieder in Nordkorea wird Ji Seong Ho verhaftet und eine Woche lang gefoltert. Republikflucht - und sei es nur für einen Tag - ist Verrat am Vaterland. Und seine Behinderung zur Schau zu stellen beschmutzt ebenfalls die Würde der Nation. Die nächsten Jahre hält sich Ji mit einem kleinen Farbenhandel über Wasser. Dass sein bester Freund 2004 verschwindet, macht ihn stutzig, bis er zwei Jahre später einen Anruf erhält: "Ich bin in Südkorea und ich hole dich da raus."

Die Flucht

Die Flucht nach China ist arrangiert. Doch so rund wie bei den Moons läuft es nicht. Nachts schleicht Ji Seong Ho mit seinem Bruder zur Grenze. Es ist Regenzeit. Der sonst seichte Grenzfluss Tumen ist jetzt ein reißender Strom. "Ohne die Hilfe meines Bruders wäre ich ertrunken", ist sich Seong Ho sicher. In China angekommen, trennen sich die beiden. Sie müssen es quer durch das Riesenreich bis nach Laos und weiter nach Thailand schaffen, zu Fuß, per Anhalter und als blinder Passagier. Bei Entdeckung droht Rückführung und Arbeitslager.

In der südkoreanischen Botschaft in Thailand treffen sich die Brüder Mitte November wieder. "Ich hatte Angst vor Südkorea", erzählt er. "Aber als ich am Flughafen ankam, wurde mir ein Rollstuhl gebracht und ich wurde ganz freundlich behandelt."

"Ende November 2006 habe ich in Nordkorea angerufen, um meinem Vater zu sagen, dass auch er bald in den Süden kommen wird", sagt Seong Ho leise. Doch die Nachbarn berichten, sein Vater sei vor einer Woche an den Folgen der Folter nach missglückter Republikflucht verstorben.

Dem Erlebten möchte Seong Ho einen Sinn geben. Er schreibt sich an der Seouler Dongguk-Universität für Jura ein. Er möchte Menschenrechtsanwalt werden. Einmal in der Woche sendet er zusätzlich ein 20-minütiges Programm auf Radio Free Asia.

Auch für Moon Kyeong Geun stellt sich nach der erfolgreichen Flucht über ein südkoreanisches Konsulat in China die Frage: Was mit dem neuen Leben anfangen? Zunächst kickt er für einen südkoreanischen Fußballklub. Doch auch er möchte etwas für die Zukunft Nordkoreas tun. Auch er beginnt Jura zu studieren.

Mächtiges Radio

Andere Flüchtlinge erzählen ihm von einem Radiosender, der Nachrichtensendungen für Nordkorea produziert. "Seit meiner Jugend wusste ich, wie mächtig Radio sein kann", sagt Moon Kyeong Geun. Inzwischen macht er ein Volontariat bei dem Sender Open Radio for North Korea. Beide Flüchtlinge beschäftigt der Tod Kim Jong Ils, beruflich wie privat.

Die Tränen ihrer Landsleute seien wohl eher Tränen des Schocks: "Diese Unsicherheit und Ratlosigkeit, wie es für das Land und einen selbst weitergeht, die kann einen sicherlich zum Weinen bringen", sagt Moon nachdenklich. "Als Kim Il Sung 1994 gestorben ist, haben die Menschen wirklich getrauert. Unter Kim Il Sung ist niemand verhungert", sagt Ji. Moons Glaube an das Regime war damals schon verschwunden. "Wenn die Kims solche Götter sind, wie können sie dann einfach so sterben?"

Er sieht wenig Chancen auf Veränderung: "Das System ist völlig verkrustet. Ich glaube nicht, dass Kim Jong Un ein Reformer ist, nur weil er im Ausland war. Es ist völlig egal, wen man an die Spitze dieser Struktur setzt, das Ergebnis bleibt das Gleiche. Der Zusammenbruch ist unaufhaltbar." Viel mehr als die Reaktion ihrer Landsleute verwundert die beiden die Reaktion des Auslands. "Jahrelang hat man nach Veränderung gerufen, und jetzt, wo die Chance besteht, wollen alle Nachbarländer nur Stabilität", kritisiert Ji.

So unterschiedlich der Weg zur Flucht, so ähnlich ist ihr Wunsch für die Zukunft: "Ich hoffe, ich kann eines Tages zurückkehren nach Nordkorea. Nicht unbedingt nach Hoeryeong, aber in ein freies, wirklich demokratisches Nordkorea", sagt Ji. Beide hoffen darauf, dass irgendwann vielleicht einmal ihr Altersgenosse Kim Jong Un das Land verlassen muss und sie ihre in Südkorea gewonnenen Kenntnisse für den Aufbau dieses besseren Nordkoreas anwenden können.

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