Abschreiben als Kunstform: Das Versagen der Filmkritik

"Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft": Sandra Nettelbeck gibt die frühen Filmrezensionen ihres Vaters Uwe Nettelbeck heraus.

Die Nähe zum Western zeichnete Uwe Nettelbeck aus. Bild: ap

Das Buch ist nicht viel größer als ein Pflasterstein, ist ebenso grau und trägt den unverschämten Titel "Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft". Zum Inhalt: Uwe Nettelbecks Filmkritiken 1963-1968. Zur Form: Da muss man ausholen.

Uwe Nettelbeck (1940-2007) wurde bekannt als Filmkritiker. Einen Namen machte er sich aber mit dem Abschreiben anderer Texte, was bei ihm Kunstform war. In der legendären, gemeinsam mit seiner Frau Petra Nettelbeck herausgegebenen Zeitschrift Die Republik, die von 1976 bis zu seinem Tod erschien, druckte er Briefwechsel mit Verlegern und Redakteuren ab, montierte das in seinen Augen idiotische Gefasel des Feuilletons zu brillanten Collagen und stimmte einen Abgesang auf den bundesrepublikanischen Kulturbetrieb an.

Nettelbecks frühe Filmkritiken für Die Zeit und die Zeitschrift Filmkritik, die nun von seiner Tochter, der Filmregisseurin Sandra Nettelbeck, herausgegeben wurden, nehmen sich noch recht konventionell aus. Doch gerade durch die chronologische Anordnung der Texte wird die Entwicklung eines der radikalsten Autoren der Bundesrepublik deutlich, der Autor niemals sein wollte: "Autor wird, wer es sich gefallen lässt."

Schon in den Kritiken kündigt sich die Montagekunst an, die er in der Republik zur Perfektion brachte. Nettelbecks Texte sind die Antwort auf die Filmästhetik der Nouvelle Vague, etwa der Filme Jean-Luc Godards, dessen subjektiv-experimentierende Geste die bis dahin gängigen objektiv-totalitären Erzählmuster aufsprengte.

Enno Patalas, Herausgeber der Zeitschrift Filmkritik, prägte den Begriff der "Ästhetischen Linken" für ein Schreiben über Film, die dieser Ästhetik Rechnung trug und zu der auch die Kritikerin Frieda Grafe zählte, von der Nettelbeck ebenso beeinflusst war.

"Godard will mit seinen Filmen nicht verführen, sondern zeigen, wie der Film verführen kann und zu was, wohin es führt, wenn aus der Nahdistanz gelogen wird", schreibt er über "Die Außenseiterbande" (1965). Nettelbeck aber denkt Godard weiter. Während dieser Anleitungen dazu liefere, "Bildern zu misstrauen", sind seine Filmkritiken Lehrstücke der Feuilletonskepsis.

Lob und Wahrheit

Da kann die New York Times Frank Perrys "David und Lisa" (1964) noch so loben, die Welt ihn preisen, Nettelbeck zitiert und kommentiert: "Ich begreife das alles nicht, denn ich habe zwar zweifellos denselben Film gesehen, aber der war verblasen und miserabel. Wir haben es nicht allein mit einem schlechten Film zu tun, sondern außerdem mit einem Versagen der Kritik." Das Einzige, was in seinen Texten neben den Liebeserklärungen ans Kino Platz fand, war die Verachtung jener Kritiker, die sich über ihren Gegenstand erhoben.

Der Text, der das Bändchen eröffnet, ist eine Kritik Sam Peckinpahs "Sacramento" (1963). Filme, die ein gesellschaftskritisches Engagement ungebrochen vortragen, waren Nettelbecks Sache nicht. Zwar sah er im Film ganz im Sinne des Oberhausener Manifests von 1962 ein kulturrevolutionäres Medium, "weil es im Kino möglich ist, eine verkehrte Welt zu zeigen, um zu zeigen, wie trostlos verkehrt die Welt ist", wie er über Arthur Penns "Bonnie und Clyde" (1967) schreibt.

Aber vor allem die Nähe zur populären Kultur und insbesondere des Westerns, zeichnen ihn aus. Seine Filmkritiken sind keine Texte über ein durch das kulturindustrielle Spektakel beschädigte Leben. Nettelbeck, der sich in den 70er Jahen als Musikproduzent der Krautrockgruppe Faust hervortat, ist angefixt von Rock 'n' Roll und Hollywood, ist weniger ein Kind von Marx als von Coca-Cola, um einen Filmtitel Godards abzuwandeln. Und dennoch sind seine Texte scharfe Studien über die Verblendungszusammenhänge der Filmindustrie.

Nirgendwo wird das so deutlich wie in seinen Kritiken von Kriegsfilmen oder "James Bond – Feuerball" (1965), über dessen Autor, Ian Fleming, er schreibt, er mache sich "jener faschistischen Neigung verdächtig, den Totschlag zum ästhetischen Vergnügen zu sublimieren".

Uwe Nettelbecks Filmkritiken haben Qualitäten, die dem Rezensionsfeuilleton gewöhnlich abgehen. Allein das einfache Abschreiben des Films, der Handlung und der Dialoge, ist so sensibel, das man die Filme, obwohl man sie doch gerade nach der Lektüre so gern wieder oder überhaupt mal sehen möchte, sich eben nicht mehr zu sehen traut aus Angst, sie überdeckten die Bilder der durch Nettelbeck animierten eigenen Vorstellung.

Uwe Nettelbeck: "Keine Ahnung von Kunst und wenig vom Geschäft. Filmkritik 1963-1968". Hrsg. von Sandra Nettelbeck, Philo Fine Arts, Hamburg 2011, 350 S., 16 Euro

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