Zeichen in Haselnussruten

PHÄNOMENOLOGE Botho Strauß erzählt in den „Fabeln von der Begegnung“ nicht von Tieren, dafür von vereinzelten Menschen

Dryope soll eine Schönheit gewesen sein, sie pflückte aber ein Zweiglein vom falschen Baum und verwuchs zur Strafe zu einem wasserliebenden Lotusbaum. Die Mythe aus dem neunten Buch der Ovid’schen „Metamorphosen“ taucht gleich zu Beginn von Botho Strauß’ neuem Erzählband auf. Doch mit Ovid ist es an dieser Stelle nicht getan. Man sollte auch das alte Testament und die Josephs-Legende zur Hand haben, die Geschichte jenes nach Ägypten Verschleppten, der sich den Nachstellungen von Potiphars Weib ausgesetzt sieht. Sie will Sex, er seine Ruhe. Strauß legt die biblische Erzählung einem Mann in den Mund, der eine heutige Botiphar auf Distanz hält.

So ein Bildungskasper, und darin kann man je nach Standpunkt eine phänomenale oder katastrophale Nachricht sehen, ist derart jenseits von Brüderle, dass er nicht mal mehr im Geiste grapscht. Er fügt der Frau die größte denkbare Schmach zu und lässt sie im Regen stehen, „bis auf die Kochen unbegehrt“. Das kennt man. Botho Strauß bleibt sich in „Die Fabeln von der Begegnung“ treu und skizziert Miniaturen sich verfehlender Frauen und Männer. Er führt das Thema aber nicht aus, sondern variiert Erzählfragmente quer durch die Berufsgruppen, Jahrzehnte und Erzählstile. Man meint, an der Seite eines Jungen zu wandeln, der Zeichen in Haselnussruten ritzt und sie sofort wieder wegwirft. Da liegen sie nun und wollen gedeutet sein.

Etwa wenn es Strauß um Momentaufnahmen weiblicher Körperteile geht, es jedoch kommt, wie es kommen muss. „Bereits mit der ersten Körperbewegung, die sie ausführt, deklassiert sie ihren Wuchs, etwa wenn sie das stille Ebenmaß ihrer Schultern durch ein schnippisches, hastiges Achselzucken beschädigt“, heißt es gegen Ende der Loseblattsammlung eines schweifenden Phänomenologen, dem es nicht mehr um „Paare, Passanten“ geht, so der Titel seines ersten Erzählbandes. Dreißig Jahre später sind da nur noch passagere Phänomene und lose Einzelwesen im genderberuhigten Einerlei.

Ein Buchhalter ist verstört, weil eine Kollegin die Grapschmentalität des Mannes variiert. Sie ist aus dem Urlaub zurück und demonstriert „eine neuartige Form von aufgegebener Distanz, von Unempfindlichkeit gegenüber dem Körper des anderen, etwa der Haut eines vorsichtigen Mannes“. Dann lehnt sie sich „mit ganzer Flanke“ beim Buchhalter an und fährt dabei „ihr taktiles Empfinden auf null“.

Männer im Zaum halten

So viel zu den neuen Leiden des alten Buchhalters, der als kaum greifbares Etwas durchs Gelände geistert, im Flughafenterminal als gut gekleideter Gentleman erkannt wird oder Personalchef einer Schuhfabrik ist und vier Frauen kündigt, die ihn, sobald er aufstehen will, mit einem scharfen „Sitzenbleiben“ im Zaum halten. Die Frau ist hier eine Diana, die das Wild stellt, ihm dann aber den Stempel „Zum Verzehr ungeeignet“ verpasst.

Egal, welches Fundstück aus dem Dickicht der Moderne Strauß auch demonstriert, er bleibt ein sich selbst verhindernder Epiker, der nur noch selten so tut, als könne er einem Sujet die Luft für einen größeren Erzählbogen einhauchen. Macht er dennoch eine Andeutung in diese Richtung, meint man dem Klassiker des 19. Jahrhunderts zu lauschen, bei dem Erzählungen noch ein Abenteuer im Hochgebirge der Sprache waren.

Kleist könnte Pate einer Skizze sein, die wie folgt anhebt: „Eine zierliche ältere Dame befand sich mit ihrer Gesellschafterin, einer verarmten Gastwirtstochter, die einer täglich frischen Unentschiedenheit ihrer geschlechtlichen Neigung wegen keine andere Bindung einging, in einer geradezu unaufhörlichen Unterhaltung.“ Aber dieser Erzählton steht vereinzelt im Raum. Warum sollte es ihm anders ergehen als den Menschen, die Strauß auf seinen Streifzügen begegneten.

JÜRGEN BERGER

Botho Strauß: „Die Fabeln von der Begegnung“. Hanser Verlag, München 2013, 248 S., 19,90 Euro