Sollte man Amazon boykottieren?

VORWÜRFE Eine fragwürdige Sicherheitsfirma, empörte Kleinverlage, Kartellverdacht: Es gibt viele Gründe, nicht mehr bei Amazon einzukaufen

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JA

Bernd Schlömer, 43, ist seit April 2012 Vorsitzender der Piratenpartei Deutschland

Was in den Unterkünften der Leiharbeiter und hinter verschlossenen Türen passiert, weiß ich nicht genau, aber die Vorwürfe wiegen schwer. Taschen- und Wohnungsdurchsuchungen oder die Täuschung über Arbeitsverhältnisse verletzen Arbeitnehmer eindeutig in ihren Persönlichkeitsrechten. Das ist absolut inakzeptabel. Es genügt nicht, lediglich den Sicherheitsdienst zu kündigen und halbherzige Formbriefe an die Presse zu verschicken: Amazon hat gesellschaftliche Verantwortung und muss Transparenz schaffen! Dass dies nicht die Stärke des Konzerns ist, hat Amazon gezeigt, als es Wikileaks von seinen Servern verbannte, ohne die Rechte von „Whistleblowern“ zu berücksichtigen. Daher ist der mündige Verbraucher gefragt. Jeder muss seine Entscheidung bezüglich eines Boykotts selbst treffen. Je mehr mitmachen, desto höher wird der Druck auf den Konzern.

Jutta Sundermann, 41, hat das globalisierungskritische Netzwerk Attac mit begründet

Wer sich über menschenunwürdige Arbeitsverhältnisse in den Versand-Hallen von Amazon wundert, muss seine Scheuklappen neu justieren oder sich für andere Verhältnisse einsetzen. Lasst uns den Versandhandel-Giganten zwischen die Buchdeckel eines künftigen Geschichtsbuchs verbannen („vorübergehende Exzesse des E-Commerce“) und eine bessere Zukunft gestalten! Die beginnt damit, dass viele Menschen die kleinen Wege zum nächsten Buchladen wieder entdecken. Und geht weiter mit Studierenden, die ihren Uni-Bibliotheken Dampf machen, weil diese zu Amazon verlinken. Und sie schließt eine gesellschaftliche Debatte und politische Maßnahmen gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse ein – nicht nur bei einem bekannten Buchversand.

Jonas Engelmann, 34, ist Autor und Lektor des Ventil Verlags in Mainz

Als Kleinverlag hat Ventil anfangs von Amazon profitiert: Wir waren plötzlich sicht- und lieferbar, nicht mehr nur vom Buchhandel abhängig. Amazon verfolgt jedoch zunehmend eine Monopolstrategie mit dem Ziel, die komplette Verwertungskette abzuschöpfen. Mit Amazon Crossing tritt der Konzern nun auch als Verleger auf und greift die Publikumsverlage an. Wen wundert es also, dass so ein Unternehmen bei seinen Beschäftigten kaum die Mindeststandards erfüllt? Dennoch: Boykottaufrufe sind prinzipiell problematisch. Gründe, Amazon zu meiden, sehen wir aber mehr als genug. Im Netz ist Amazon kein Monopolist. Bei vielen Verlagen und Buchhändlern können Bücher ebenfalls portofrei online gekauft werden. Die beste Wahl ist der Weg zur Buchhandlung oder zum Verlag: Die Selbstausbeutung der Kleinverleger oder -buchhändler ist immer noch die sympathischere Form der Ausbeutung.

Bernd Riexinger, 57, ist seit 2012 Bundesvorsitzender der Partei Die Linke

LeiharbeiterInnen werden regelmäßig schlechter bezahlt als die regulär Beschäftigten. Auf diese Weise wird Leiharbeit belohnt. Warum regeln wir sie nicht so, dass LeiharbeiterInnen denselben Lohn wie die regulär Beschäftigten erhalten, plus einem Flexibilitätsbonus von 10 Prozent? Aber nicht nur Politiker, auch die VerbraucherInnen sind gefragt: Denn während bei Nahrungsmitteln oder bei der Energie viele Menschen zu Recht sehr genau darauf achten, ob die Produkte ökologisch herstellt werden, gehen KonsumentInnen mit sozialen Kriterien – wie Bezahlung und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten – oft sorgloser um. Jeder und jede kann entscheiden, ob das eigene Geld bei einer Ausbeuterfirma landet.

NEIN

Stefanie Nutzenberger, 49, ist Ver.di-Bundesvorstandsmitglied für den Handel

Der rasante Aufstieg von Amazon beruht offensichtlich auf geringer Bezahlung, Leistungsdruck und skandalöser Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse. Insofern sind unsere Erfahrungen mit Amazon durch die aktuellen Medienrecherchen bestätigt worden. Ein Weltkonzern verschafft sich hier Wettbewerbsvorteile auf Kosten seiner Beschäftigten. Doch die Öffentlichkeit ist kritischer geworden, was den Umgang mit Beschäftigten angeht, und offensichtlich wirkt allein schon die Angst vor dieser Öffentlichkeit und einer möglicherweise spontanen Kaufzurückhaltung auf Amazon. Nun ist es an der Politik, die Arbeitsbedingungen bei Amazon zu überprüfen. Aber auch Konsumentinnen und Konsumenten können ihren Unmut über Amazon direkt an das Unternehmen adressieren und so einen Wandel herbeiführen. Amazon schafft Arbeitsplätze, doch müssen diese auch tariflich abgesichert und menschenwürdig sein.

Ariane Durian, 52, Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen e. V.

Die Marktmacht der Konsumenten ist das schärfste Schwert in der Marktwirtschaft. Die Furcht, dass sich Kunden abwenden könnten, bewirkt bereits Veränderung. Amazon hat Besserung gelobt und erste Schritte eingeleitet. Von Dienstleistern, deren Verhalten nicht zur Amazon-Philosophie passt, hat man sich getrennt. Betriebsräte werden für die Einhaltung von internen Leitlinien sorgen. Ich glaube, dass Personaldienstleister, die sich der „guten Zeitarbeit“ verpflichtet haben, der richtige Partner bei Auftragsspitzen sind. Dass diese in der Weihnachtszeit besonders hoch sind, liegt in der Natur der Sache. Wir als Konsumenten sollten bereit sein, für eine gute Dienstleistung auch angemessene Preise zu bezahlen. Sonst geben wir die Richtung vor, die wir selbst beklagen.

Ulf E. Ziegler, 53, Autor des Romans „Nichts Weißes“, Shortlist Deutscher Buchpreis 2012

Wer antiquarische Bücher sucht, wäre ein Narr, nicht unter dem gewaltigen Dach von eurobuch.com zu schauen, unter das sogar Amazon geschlüpft ist. Was neue Bücher angeht, habe ich den deutschsprachigen Verlagen vorgeschlagen, einen Gegenkonzern zu gründen, der auch kleine, private Buchhandlungen unter dem entsprechenden Logo einschließen würde. Der Buchversand wäre so zu regeln, dass die lokalen „Verlagsbuchhandlungen“ mit einer Art Standort-Euro vom Versandhandel profitieren, auch wenn das Paket vom Zentrallager direkt zum Kunden geht. Wer Amazon aushebeln will, darf die Kunden nicht zu Thalia treiben. Eine Umkehr des Systems kann durch einen Boykott nicht erzwungen werden: Es muss „große“ Alternativen geben, die einfach zu benutzen sind. Übel, dass die deutschen Literaturverlage sie verschlafen.

Lukas Daubner, 25, Student der Soziologie, hat unsere Frage per E-Mail kommentiert

Ich bin gegen einen Boykott – dann müsste man ja alle großen Internetversandhändler boykottieren. Eher sollten sich die Konsument_innen fragen, ob jede Glühbirne und jedes Buch etc. im Internet gekauft werden muss. Klar, für alle die, die weit weg vom Schuss leben oder nicht mobil sind, ist das Internet eine tolle Shopping-Möglichkeit. Alle anderen könnten auch mal wieder den Weg ins nächste Kaufhaus oder zum nächsten Fachhändler wagen – frische Luft ist immer gut. Auch mal nicht im Internet zu kaufen, ist ein Beitrag zu einer lebendigen Innenstadt und damit einer Vielfalt von Geschäften. Gleichzeitig können so mehr Jobs geschaffen oder gehalten werden – ob die besser bezahlt sind, ist eine andere Frage.