AUSGEHN UND RUMSTEHN
: Früher war alles besser, selbst die Krise

VON CHRISTIANE RÖSINGER

War Silvester nicht irgendwie ein bisschen mau? Früher war mehr Lametta, mehr Feuerwerk, mehr Leute auf der Straße. Nachdem die Berliner schon an ihren geschmackvollen Weihnachtsbeleuchtungen gespart haben, wird jetzt auch noch weniger geböllert! Armes Berlin! Konnte man doch früher im hinteren Kreuzberg das Haus nach zwanzig Uhr nicht mehr verlassen, weil sich die Nachbarn von den Balkonen aus beschossen. Es hat wohl eine Zeitenwende stattgefunden, dieses Silvester verlief so ruhig und zivilisiert. Aber auch der Rosenthaler Platz war um halb drei nachts nur unwesentlich belebter als an einem normalen Wochenende, und wo fanden eigentlich die großen Partys statt? Gab es keine oder hat man es halt wieder mal nicht mitgekriegt? Am 1. und 2. Januar vermisste man den gewohnten rötlichen Matschbrei auf den Straßen , aber schöner ist der Schnee ja schon, macht er doch alles ein bisschen weniger sinnlos zum Jahresanfang. Mit einer weiteren Neujahrstradition brachen viele: Das Neujahrskonzert in der Volksbühne war die ganze letzte Dekade hindurch ein sicheres Date. Denn wenn Silvester schon nicht so besonders war, hatte man am 1. Januar in der Volksbühne die zweite Chance, würdig ins neue Jahr zu gehen. Das Neujahrskonzert war eine feste Verabredung, zu Peterlicht, Gustav, Tocotronic, Die Sterne, Bernd Begemann, Throbbing Gristle, Warren Suicide, Kante.

Dieses Mal war das Programm allerdings so dermaßen unverlockend, man will sich fast Sorgen um die Zukunft der Volksbühne machen. Auch wenn sich Olli Schulz letztes Jahr bei Stefan Raabs Bundessongcontest wacker geschlagen hat – mit singenden Schauspieler und Bands, die mit deutschen Schauspielern abhängen, wollte man das neue Jahr wirklich nicht beginnen. Egal, jetzt heißt es nach vorn schauen. Was wird uns das taufrische neue Jahrzehnt bringen? Die vergangenen Nullerjahre waren ja Krisenjahre. Zuerst die Y2K-Angst, dann kam 9/11, wonach die Welt ja bekanntermaßen nicht mehr so war wie vorher, und gegen Ende des lausigen Jahrzehnts wartete die Weltwirtschaftskrise. Und obwohl „Abwrackprämie“ zum Wort des Jahres gewählt wurde, soll es 2010 erst zur großen Autoabsatzkrise, dann zur Jobkrise und danach zu einer sozialen Krise kommen.

Aber kein Grund zur Panik: „Ich bin wie Berlin, immer in der Krise!“, sagt sich die entspannt-prekäre Kreuzbergerin und schaut frohgemut ins neue Jahr. Vielleicht sollte man sich im kommenden Jahr nach all den öffentlichen Krisen mal wieder mehr den persönlichen Krisen zuwenden: Für Schriftsteller bietet sich die Krise des Erzählens, die Schreibkrise an, für Musiker die Songkrise, für Künstler die Bilderkrise, für Hedonisten die Ausgehkrise. Die Lebenskrise wiederum ist passend für jeden in jedem Alter. Schon die Kindheit ist ja ein krisengeschüttelter Lebensabschnitt. Geburt, orale, anale, Trotzphase. Dann kommen Flegeljahre, Pubertät, dann die Adoleszenzkrise, dicht gefolgt von der Quarterlife-Crisis so mit 25. Dann ist kurz Ruhe, der beruflich engagierte Mensch kann an dieser Stelle aber auch mal ein bis zwei Burn-out-Krisen einlegen. Wer die Lebensform „Pärchen“ gewählt hat, wird sich ab und an der allseits beliebten Beziehungskrise erfreuen, bei manch 35-Jährigem mündet die Krise der Männlichkeit schon in die Midlife-Crisis, und über 40 bereitet man sich dann schon langsam auf die Altersdepression vor.

Und mit diesem erfreulichem Ausblick auf zu erwartende Lebenskrisen wollen wir in das neue Jahr vom Winterschlaf zur Frühjahrsmüdigkeit, von der Frühjahrsmüdigkeit ins Sommerloch, in die Herbsttraurigkeit in den Winterschlaf gehen.