Lothar Müllers „Weiße Studie“: Die Blätter in unserem Kopf

Lothar Müller hat die lehrreiche, anregende Studie „Weiße Magie“ geschrieben. Über die Epoche des Papiers – kombiniert mit Technikgeschichte und Literaturwissenschaft.

In unseren Köpfen rauschen die Blätter, immer noch. Bild: zettberlin / photocase.com

Das ist eine fällige, sehr fruchtbare Verschiebung des Blickwinkels, die Lothar Müller in seiner Studie mit dem schönen Titel „Weiße Magie“ über die Epoche des Papiers vornimmt. Nicht der Buchdruck, sondern das Papier selbst ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu alten und neuen Medien und deren Verquickung mit der großen und kleinen Historie.

Von Urkunden und Briefen spricht der habilitierte Kulturwissenschaftler und Literaturredakteur der Süddeutschen Zeitung, von Akten, Spielkarten und Papiergeld, Lochkarten und Packpapier, Flugblättern und Plakaten und natürlich von Büchern und Zeitungen – von ihrer Herstellung, Verbreitung, ihren Kosten und ihrem Gebrauch.

Anders als Marshall McLuhan, der mit seiner berühmten „Gutenberg-Galaxis“ (1962) den Buchdruck als dramatischen Epochenbruch entwarf und damit mindestens zwei Generationen von Medienwissenschaftlern geprägt hat, versucht Lothar Müller, die Epoche des Papiers in ein fließendes, kontinuierlich sich veränderndes Umfeld einzupassen.

Um die Pointe seiner lehrreichen, anregenden und streckenweise durchaus aufregenden Studie vorwegzunehmen: Das digitale Zeitalter sollten wir nicht als eine alles Vorherige umstürzende Medienrevolution begreifen. Die Bildschirme haben das bedruckte Papier weder verdrängt noch vernichtet. Eher sollten wir uns an den Gedanken des Neben- und Miteinanders gewöhnen.

Ich werde gedruckt, also bin ich

Dabei leugnet Lothar Müller, der das tägliche Zeitungsgeschäft von innen kennt, keineswegs die digitalen Herausforderungen. Wie sich beispielsweise eine Zeitungsseite alten Stils zu einer Zeitungsseite in der digitalen Version verhalte, ob es überhaupt eine Entsprechung von analog und digital geben könne, das sei noch keineswegs ausgemacht. Solange jedenfalls ein Rainald Goetz davon träume, sein Internettagebuch „Abfall für alle“ als Buch zu veröffentlichen, lebe der alte Mythos der Autorschaft fort, der da lautet: Ich werde gedruckt, also bin ich.

Tief hinab in die Geschichte der Papiergewinnung steigt Lothar Müller, er nimmt den Weg von China über Ägypten und Arabien, Nordafrika und via Spanien bis nach Europa, wo sich im 18. Jahrhundert in Lyon, Paris und Venedig, im 19. Jahrhundert auch in England die großen Papiermanufakturen etablierten. Bis die stoffbasierte Produktion zur Massenware des aus Holzfaser und Zellstoff hergestellten Papiers geworden war, hatten die bitterarmen Lumpensammler und bleichen Sortiererinnen, die Arbeiter an den Papiermaschinen viel zu leiden.

Größter europäischer Umschlagsplatz für die unverzichtbaren (und daher kostbaren) Lumpen war Hamburg. Karl Marx, so lautet eine von Müllers überraschenden Analogien, habe in der industrialisierten Papierherstellung „alte Mythologien der Ungeheuer“ am Werk gesehen, die wiederum in der Dämonie der Farbe Weiß bei Herman Melville eine Entsprechung fänden; weiß ist sowohl der unbesiegbare Wal Moby Dick als auch das Papier im Büro des unwilligen Schreibers Bartleby. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Die „Weiße Magie“ wirft Schatten, die von der Literatur- und Geistesgeschichte eindrücklich dokumentiert werden.

Die Zugkräfte der Geschichte sind mit dem Papier im Bunde, und das Papier wiederum mit der Poetik: Dies ist die in beeindruckender Materialfülle belegte Hypothese des Buchs. Selbst die Briefromane des 18. Jahrhunderts, in denen die bis heute wirksame Empfindsamkeit ihre Ausdrucksform fand, liest Lothar Müller mit Blick auf die handfesten Daten wie Transportwege, Papierpreise, Postwesen. So sei, um nur ein Beispiel zu nennen, die enorme Frequenz der in Samuel Richardsons Roman „Clarissa“ gewechselten Briefe gar nicht möglich gewesen ohne die billige, effektive Londoner Penny Post.

Geist des Zeitungspapiers

Einer, der den Einfluss der im 19. Jahrhundert entstehenden periodischen Massenpresse sowie den im Hintergrund spekulierenden Papierfabrikanten in bewundernswerter Komplexität verarbeitet habe, sei Honoré de Balzac mit seinen „Verlorenen Illusionen“. Und das 20. Jahrhundert konnte dann die Geburt der ästhetischen Moderne aus dem Geist des Zeitungspapiers fortsetzen, wie der Autor anhand von Joyces „Ulysses“ und dessen Held Leopold Bloom, eines Anzeigenakquisiteurs in Dublin, faszinierend nachzeichnet.

Wie in den fachübergreifenden Kulturwissenschaften inzwischen üblich, vereinigt Lothar Müllers Buch über „Weiße Magie“ die Technik- mit der Wirtschaftsgeschichte, die Medien- mit der Literaturwissenschaft, die Mikro- mit der Makrohistoire. Dabei bestechen seine Gelassenheit im Ton, die Klarheit der Darstellung und seine sprühenden Interpretationen. Man muss die kluge Ökonomie bewundern, mit der Lothar Müller uns digital-analoge Zwitterwesen durch die glücklicherweise unabgeschlossene Epoche des Papiers navigiert. In unseren Köpfen rauschen die Blätter, immer noch.

Lothar Müller: „Weiße Magie. Die Epoche des Papiers“. Carl Hanser Verlag, München 2012, 383 Seiten, 24,80 Euro
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