Soziales Design: Erfinden mit Hand und Zunge

Wenn Produktdesigner mit behinderten Menschen Gebrauchsgegenstände entwickeln, können dabei erstaunliche Kreationen entstehen. So geschehen im Rahmen des Projekts "able wird Label". Jetzt sind die Objekte in einer Ausstellung zu sehen.

Bild: DPA

Samtiges Brombeer, durchwirkt mit Pink und cremigem Rosa. Die Zunge kitzelt über die unebene süße Masse. Die Spitzen des gehörnten Lollis stoßen ans Wangeninnere.

Den ungewöhnlichen Lutscher kann man erwerben in der Ausstellung „Wir sind Handdenker“, die derzeit in der Weißenseer Kunsthalle am Hamburger Platz gezeigt wird. In dem weiten Raum der ehemaligen Kaufhalle zeigen die Macher auf Podesten ein Sammelsurium von Gebrauchsobjekten – von Gewürztöpfchen über Bonbonspiele bis zu einem mit Kreide beschriftbaren Memory. Die Produkte stammen jedoch nicht aus professioneller Designerhand, sondern es sind Kreationen von Menschen mit Behinderungen.

Über Monate hinweg haben junge Produktdesigner der Kunsthochschule Weißensee mit geistig und psychisch Beeinträchtigten in verschiedenen Berliner Behindertenwerkstätten experimentiert. Unter dem Dach des Projekts „able wird label“ drehte sich alles um das sinnliche Erforschen von Formen, Farben und Oberflächen. „Ich wollte einen neuen Zugang zu den bekannten Arbeitsmaterialien schaffen“, sagt Projektleiterin Isabelle Dechamps.

27 Jahre jung ist die Produktdesignerin. Die Ärmel ihres Overalls sind hochgekrempelt, die Haare aus dem Gesicht geklemmt. Wie ihr Auftreten wirkt auch das Konzept sehr pragmatisch – und gleichzeitig quer gedacht. „Tassen werden normalerweise in speziellen Gipsformen gegossen. Stattdessen haben wir in der Keramikwerkstatt Objekte ihrem eigentlichen Zweck entfremdet, in dem wir sie in Stücke schnitten und neu aneinanderbauten“, erklärt sie. Der Teilnehmer Michael Poggemann töpferte aus unterschiedlichen Tassenformen eine milchig schimmernde Vase mit sieben dottergelben Henkeln. „Eine Mischung aus einer Dose und einer Urne“, bemerkt Isabelle Dechamps und kichert. „Seine Geschichte dahinter ist lustig: Die Vase soll einer berüchtigten Mietshausbesitzerin gehört haben, die darin Staatsgeheimnisse, Gummibärchen oder ihren heimlichen Ehemann versteckte.“

Erst jetzt aufgefallen, wie toll er schreiben kann

Poggemann selbst verdeckt sein Gesicht mit den Händen und gluckst. Die Idee sei „automatisch“ zu ihm gekommen. Langsam und stockend sagt er, nun mit ernster Stimme: „Als meine Eltern von der Vase erfuhren, waren sie überrascht von meinem künstlerischen Talent.“ Seit sieben Jahren betreut Petra Abel die Keramikgruppe: „Erst durch das Projekt fiel mir auf, wie toll Herr Poggemann schreiben kann. Während er sich beim Reden verstrickt, sind seine Geschichten klar.“

Isabelle Dechamps sagt, ihr gehe es darum, Produkte zu fördern, mit denen sich die beeinträchtigten Menschen identifizieren können. „Designkompetenz vermitteln“ nennt sie das. „Wir lenken nur den Prozess, setzen einen didaktischen Rahmen und greifen bei Bedarf ein“, sagt sie, ganz im pädagogischen Jargon. Derzeit ist Dechamps Meisterschülerin an der Kunsthochschule Weißensee. Seit Anfang des Jahres leitet sie das Semesterprojekt mit zehn Produktdesignstudenten in fünf Werkstätten, die mit Holz, Keramik oder Textilien arbeiten, einer Kerzengießerei und einer Bonbonmanufaktur. Eine Auswahl der Ergebnisse stellen die Werkstätten bereits in Serie her. Massenproduktionen sollen die Objekte jedoch nicht werden.

„Aus Neugier auf diese andere Produktionsweise“ schlug Dechamps während des Studiums einen sozial verantwortlichen Weg ein – fern von der freien Wirtschaft und Industrieproduktion. Zunächst assistierte sie in der Keramikwerkstatt, fügte sich ein und wurde den Teilnehmern vertraut. Daraus entfaltete sich ihr Diplomprojekt „able“: Abseits des seriellen Produktionstrotts möchte Dechamps unerkannte Talente entdecken und das Selbstwertgefühl von Menschen mit Handicap stärken.

„Früher hat Frau Renner kaum ein Wort gesprochen, noch nicht einmal mit den anderen Menschen in der Gruppe“, erzählt Pädagogin Abel. Jetzt hängt ein Foto von Renner an der Werkstattür. Stolz präsentiert sie ihre Gewürztöpfe aus weißem Porzellan, in die sie vor dem Brennen unterschiedliche Muster eingraviert hat. Auf die Frage, wie sich Renner mit der Aufmerksamkeit fühlt, antwortet sie: „Das freut mich echt total“, und zieht illustrierend mit den Zeigefingern die Mundwinkel auseinander.

Über die Werkstätten und die Ausstellung vertreibt „able“ die Produkte. Neben den Gewürzbehälter sind bislang die Lutscher am meisten verkauft worden. Um das Lutscherlebnis herum haben die Teilnehmer Spiele kreiert: „Der Genusskalender funktioniert wie eine To-do-Liste, und mit dem Bonbon auf der Rückseite kann man sich belohnen. Gleichzeitig funktionieren die Bonbons als Spielsteine für Brettspiele wie Dame“, erklärt Dechamps.

„Als Designer bringt man ein gewisses Chaos mit und stellt die bewährte Produktpalette infrage. Dennoch haben uns die Werkstätten Zeit und Material geschenkt. Aktuell findet dort ein Umdenken durch ein neues Gesetz statt, nach dem behinderte Menschen mehr Freiräume am Arbeitsplatz haben“, konkretisiert die Projektleiterin. Das gehe so weit, dass die Werkstätten inzwischen um die angenehmsten Arbeitsbedingungen konkurrieren.

In der Holzwerkstatt begleitete Ferdinand Pechmann das Experiment als studentischer Designer: „Am Anfang stellte ich Tafelfarbe vor. Irgendwie haben sich alle darauf eingeschossen und waren nicht mehr davon abzubringen.“ Für ihn ergaben sich ganz alltägliche Herausforderungen: „Manchmal stellte sich plötzlich heraus, dass jemand seit zwei Tagen Urlaub macht. Diese Verantwortung für das Team und die eigene Arbeit war für einige eine neue Erfahrung.“

Nicht über Handicaps in Kontakt treten

Auch einfach anmutende Lösungen von Entwurfproblemen brachten Teilnehmer an ihre Grenzen, erzählt Pechmann: „Ich hätte auch erfragen können, was die Beeinträchtigungen der Teilnehmer sind, aber ich wollte nicht über Handicaps mit ihnen in Kontakt treten. Keramikpädagogin Abel beobachtete vor allem Überforderung: „Es war nicht immer klar, was Priorität hatte: die normale Produktion oder die im Rahmen von ’able‘. Aber auch wir Anleiter sind an unsere Grenzen gekommen.“

Aus dem einstigen Vorhaben für ihre Diplomarbeit, das im Herbst mit einem Förderpreis prämiert wurde, entwickelte Isabelle Dechamps neben dem Semesterprojekt für die Weißenseer Kunsthochschule auch „able“ als nachhaltiges Unternehmen. Über die juristische Form – Verein oder gemeinnützige GmbH – sind sie und Partnerin Melinda Barth noch nicht einig. Auf jeden Fall wollen sie parallel zur Produktionen in den Behindertenwerkstätten weitere Projekte veranstalten. Ab November wollen sie mit dem Friedrichshainer Integrationsverein BOX 66 traditionelle Handwerkstechniken aus asiatischen Ländern und früheren Ostblockstaaten in Workshops weiterentwickeln.

Das „able“-Startkapital von rund 8.000 Euro haben die Macherinnen durch eine Crowdfunding-Kampagne gesammelt. So investierte Dechamps Bestellungen in Produktionskosten, Arbeitsutensilien und einen professionellen Internetauftritt.

Finanziell hat sich das Engagement der Designer noch nicht gelohnt. Aber: „Als Studenten verdienen wir sonst auch nichts“, gibt Dechamps zu bedenken. „In Zukunft werden wir versuchen, dass auch die Gestalter der Produkte daran verdienen.“

■ „able wird label“, noch bis 27. 7. in der Kunsthalle am Hamburger Platz. Mehr auf www.able-berlin.de

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