Aufarbeitung des Wirtschaftswunders: Der Sohn prüft die Bücher

Eine Geschichte der frühen BRD, eine Vatersuche, eine Ehrenrettung: Der Essayist Michael Rutschky füllt die Lücken im „Merkbuch“ seines Vaters aus.

Neue Währung, neue Preise – aber die alten Firmen. Michael Rutschky wirft einen Blick hinter das Wirtschaftswunder. Bild: dpa

„Bücher werden aus Büchern gemacht. Wenn Schreiben mit dem Leben zu tun hätte, wäre jeder Schriftsteller“, sagte der Autor Cormac McCarthy einmal. Der Schriftsteller Michael Rutschky würde dem zweiten Satz entschieden widersprechen, obwohl er in seinem neuen Buch „Das Merkbuch“ so verfahren ist, wie McCarthy es postuliert. Aber sind das schon Bücher, die Rutschky zu einem literarischen Collage-Essay oder vielleicht sogar Lebensroman seines Vaters weiterverarbeitet?

Diese kunstledernen Taschenkalender, die der „kleine Angestellte“ eines Wirtschaftsprüfungsunternehmens von 1951 bis 1973, im letzten Viertel seiner Erwerbstätigenexistenz, mit rudimentären Notaten füllt – beziehungsweise ja gerade nicht füllt, denn es bleiben Jahr für Jahr viele Seiten, Tag für Tag viele Zeilen frei.

Rutschky, „der Sohn“, als der er selbst in der vom Vater vorgelebten Dezenz meist auftaucht, nimmt diesen „persönlichen Geschäftsbericht“ für Literatur. Das ist die sympathisch unversnobte, egalitäre und McCarthy widersprechende poetologische Behauptung dieses Buches.

Zwischen den Zeilen lesen

Er tut so, als wäre tatsächlich „jeder Schriftsteller“, als wäre jedes dieser Merkbücher „eine wertvolle Urkunde“, als hätte eben auch „der Angestellte, wie er die umfangreichste, aber nicht die herrschende Klasse stellt“, die vermeintlich „so leicht und folgenlos austauschbare Charaktermaske“, wirklich etwas zu erzählen. Man muss nur zwischen den Zeilen lesen können. Das tut Rutschky mit viel Einfühlungsvermögen, dokumentarischer Akribie, produktiver Fantasie und einer enormen Erinnerungsleistung.

Was er uns hier mitteilt, ist so etwas wie eine historisch-kritische Studienausgabe dieser Merkbücher, mit Einführung, Stellenkommentar und Interpretation, und zugleich liefert er ein schönen Beweis dafür, dass Schreiben sehr wohl etwas mit dem Leben zu tun hat.

„Vater prüft die Bücher“, lautet die Familienformel für dessen Tätigkeit, und in dieser Eigenschaft nimmt er Anteil am Wirtschaftswachstum der jungen Bundesrepublik, der Neukonsolidierung des Kapitals, das in der Regel schon mit den Nazis kollaboriert und gute Geschäfte gemacht hatte, was der Alte in nie nachlassendem Zorn am Esstisch seiner Familie auseinandersetzt.

Rutschky verfolgt in kleinen Porträts die Firmen, mit denen sein Vater befasst ist und zeichnet so eine exemplarische Wirtschaftsgeschichte jener Jahre. Hieran knüpfen sich dann je nach Mitteilungslage der Merkbücher oder Erinnerungs- und Assoziationsvermögen des Autors weitere, politische, kulturhistorische, mentalitätsgeschichtliche und soziologische Exkurse an. Rutschky füllt die Lücken, pinselt Kontexte aus, und so steht dann tatsächlich ein pointillistisches, aber gar nicht so unscharfes Bild der Nachkriegsgeschichte.

Reyon, Perlon, Dralon

Anhand einer knappen Kostenaufstellung für Kaffee, Tabak und Schokolade erläutert Rutschky die Anfänge des Konsumismus. Die den Vater engagierende Firma Glanzstoff, die erfolgreich Kunstfasern vertreibt (Reyon, Perlon, Dralon etc.), liefert den Anlass, über das Vordrängen der „Plastikwelt“ zu referieren. Rutschky spiegelt immer wieder das Große im Kleinen. Und am bestechendsten sind diese aphoristischen Analysen, wenn er damit dem „Zeitgeist“ auf die Schliche zu kommen versucht, dieser bestimmten ideell-emotionalen Verfasstheit des Kollektivs. Etwa wenn er erzählt, wie wichtig seinem Vater ist, „dass er die ganze Zeit in einem Büro arbeitet und nicht in einem Bergwerk oder einer anderen Produktionsstätte, wo man sich die Hände schmutzig macht. Das bedeutete a priori ein anderes Betriebsklima.“

Oder wenn er den wochenlangen Krankenhausaufenthalt der Mutter nach einem gebrochenen Fuß kommentiert: „Damals versprach die Medizin sich Heilwirkungen davon, dass man die Patienten auf länger im Krankenhausbett fixierte und sie gewissermaßen kasernierte – das war irgendwie noch das übergreifende Modell, die Kaserne. Auch Krankheiten geht man am effektivsten militärisch, jedenfalls durch autoritäre Kontrollmaßnahmen an.“

Oder wenn er die eigenen Erfahrungen in der Schule notiert, „wo das Schulkind auf einem Stuhl an einem Tisch sitzt, bis es zur Pause klingelt; wo man nur noch reden darf, wenn man gefragt wird; wo einem die Arbeit zugeteilt und dann geprüft und benotet wird – das alles wirkt wie eine praktische Einführung in das Leben der Angestellten.“

Am traurigsten ist seine Diagnose, wenn er über die vielen Stunden Langeweile nachdenkt, die er und seine Freunde beim Warten auf den Zug zu überbrücken hatten. „Aber darauf kamen sie nicht, die Eltern in unserer kleinen Stadt, die schon ein Auto besaßen, einen Fahrdienst für ihre Fahrschüler zu organisieren, der ihnen das sinnlose Warten nach der Schule ersparte. Das rechneten sie zur Schule des Lebens, die Eltern der fünfziger Jahre, dass die frischgebackenen Gymnasiasten die Unlust des Fahrschülerdaseins klaglos ertragen lernten. Keine Verzärtelung …“ Auch das beschreibt eine Nachkriegsgesellschaft. Darüber hinaus tun das die Wörter, die eine Gesellschaft sich erfindet: Glanzstoff, Wickelschlacken, Kräuselzwirn, Messerschmidt-Kabinenroller, Drahtwort, Hallstein-Doktrin, Saarstatut – ihre Aura evoziert eine fast vergessene Alltagswelt. Rutschky ist auch ein Archäologe der Sprache.

Die Liebe des Sohnes

Manchmal spielt Rutschky ziemlich mutwillig mit dem wenigen Material. Das geht so weit, dass er sich, kaum motiviert von ein paar Ausgaben für Blumen und Schokolade, die unbekannten Frauen im Adressenverzeichnis zu Liebschaften des Vaters zurechtfantasiert. Offenbar wäre der gern zur See gefahren. In jedem Hafen eine Braut! Und aus dem fehlenden Merkbuch des Jahres 1953 imaginiert er gleich einen ganzen tragischen Liebesroman, um dann im weiteren Verlauf dem Leser und offenbar auch sich selbst eingestehen zu müssen, dass es so wohl doch nicht war. Eher im Gegenteil.

„Hat irgendwer ihn je für voll genommen?“ Man ist angerührt von der Liebe des Sohnes, der seinem Vater wenigstens in der Fantasie zu einem aufregenderen Leben verhelfen will. Das ist das Grundmovens dieses schönen Buches: die Ehrenrettung dieser kleinen, unbedeutenden und doch auch eines solchen Buches unbedingt würdigen Angestelltenexistenz.

Dabei wird es dem Autor unter der Hand zu einer Selbstbefragung, wie viel von seinem Vater in ihm steckt. Irgendwann nämlich eifern Mutter und Sohn dem alten Rutschky nach, beginnen ihre eigenen Merkbücher zu führen. Die Identifikation mit ihm führt zur Imitation seines Verhaltens. Liegt hier der Impuls für die eigene Profession als Schriftsteller? „Vater prüft die Bücher!“ Irgendwann macht der Sohn es ihm nach – aus ihm wird ein Kritiker und Essayist.

Auch dieses Buch beruht letztlich auf einer ziemlich sublimierten Form der Imitation. Rutschky prüft liebevoll die Bücher seines Vaters und gewinnt noch den unspektakulärsten Eintragungen Bedeutung ab. Durchaus mit derselben buchhalterischen Akkuratesse, einem Genauigkeitsethos, dem man sich als Leser einfach ergeben muss, auch wenn es manchmal etwas Arbeit kostet, weil man dessen poetologische Notwendigkeit einsieht.

So beginnt er jedes neue Kapitel mit einer ausführlichen Materialkunde des jeweiligen Jahreskalenders, wie es solchen wichtigen Dokumenten nun einmal zusteht. Und auch stilistisch bleibt Rutschky seinem Vater verpflichtet. Er schreibt eine kolloquiale, uneitle, sachgemäße, mitunter auch elliptische, mit vielen Aufzählungen operierende Tage- oder Sudelbuchprosa. In der Tradition des Vaters schreibt er hier sein eigenes „Merkbuch“. So ist letztlich noch die Form ein zu Herzen gehender Liebesbeweis.

Michael Rutschky: „Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte“. Suhrkamp, Berlin 2012, 274 Seiten, 19,95 Euro
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