Berliner Bibliophilie: Der Alchemist der Buchstaben

Der Büchermacher Christian Ewald macht in seinem Köpenicker Kleinstverlag "Katzengraben-Presse" Bücher, wie sie sonst nirgends zu finden sind.

Bücher über Bücher: Bibliophilie ist eine Gratwanderung. Bild: dpa

Dort, wo die Bücher der Katzengraben-Presse herkommen, stapeln sich Kartons und allerhand Papiersorten auf übervollen Tischen, an den Wänden, teils bis unter die Decke. Steine jedweder Art, gestempelte Ziegel und Kristalle liegen noch im letzten Winkel des alterskrummen Hauses, und ganz zuhinterst steht eine mechanische Singer-Nähmaschine. Es ist gemütlich im Katzengraben 14, im ältesten Haus von ganz Köpenick.

Hier tüftelt Christian Ewald, Verleger und Gestalter in Personalunion an seinen Büchern, mit viel Liebe zum Detail: Der 62-Jährige näht die Fäden ein, die zum Markenzeichen des Kleinstverlags Katzengraben-Presse geworden sind, oder hantiert mit Zinksulfid, wenn das ein Buch verlangt. Von ausgesuchter Anmut sind die Bücher vom Katzengraben, bibliophile Menschen wissen das.

Zwei Editionen

Jährlich publiziert Ewald zwei Editionen, „eine, wenn die Blätter kommen, die zweite, wenn sie fallen“ – will heißen: eine für die Leipziger, eine für die Frankfurter Buchmesse. Neben Unikat-Editionen lässt Ewald je 999 Exemplare in einer einmaligen Auflage drucken, davon erscheinen die ersten 99 als besonders gestaltete Vorzugsausgabe. Verkauft wird nicht im Handel, nur direkt, auf den Messen und per Bestellung. Das sind seine eigens gesetzten Vorgaben – und sie garantieren ihm in jeder Saison eine Herausforderung, die er sich nie nehmen ließe.

Die aktuelle Edition „Libellenflügel“ ist eine Hommage an den Briefträger, der dem Verleger jahrelang die Post brachte. Leicht sollte dieses Buch sein, und so entschied Ewald sich für Libellenschwärme, die über feinstem Dünndruckpapier beinahe zu schweben scheinen.

Für Editionen wie diese sitzt er wie ein Alchemist nächtelang zwischen seinen Papieren im verwinkelten Haus am Katzengraben und prüft Materialien, auch Chemikalien, ob sie sich für ein Buch eignen und zum Thema passen. Bei Heinrich Heines Kindheitserinnerungen „Ich bin ganz aus Phosphor“ (1997) entstand so eine Vorzugsgrafik, wo der Sternenhimmel über dem Gedicht im Dunkeln phosphoresziert.

Ewald, der gelernte Schriftsetzer, steckt viel Handarbeit in seine Bücher, die immer im selben Format erscheinen: mit rund 50 gefalzten Seiten in japanischer Bindung und im Bleisatz gefertigt. Was nicht nur den Laien staunen lässt, nennt der Büchermacher eine „ganz einfache Gestaltung“. Und erklärt mit der gleichen Bescheidenheit: „Ich wollte nie meinen eigenen Verlag machen.“

Sagt’s, lächelt verheißungsvoll und beginnt zu erzählen. Kein Buch in seinem Programm, das nicht mit zahlreichen Anekdoten behaftet ist. Der ungewollte Verleger kann stundenlang mit Geschichten unterhalten, und damit das Buch ganz en passant anpreisen. Etwa wie er für den Einband des Reiseberichts „Mit dem Zeppelin nach Pernambuco“ von Heinrich Eduard Jacob (1992) nach Zeppelinstoff gesucht hat. Welch unterschätztes Material Wellpappe sei, mit der er gerade ein auf 14 Meter ausklappbares Leporello über Kolumbus macht. Oder die „Heringe“ (2008): Da kam Ewald über den Wunsch eines Sammlers auf die Idee, einen Schuber in Form einer abgerundeten Konservenbüchse zu fertigen, dazu eine Pop-up-Grafik mit dem Titel „Herr Inge pumpt fleißig Zitronensaft, während Herr Buchmann in der Stadt spazierend Pökelsalz kauft“.

Angefangen hat die Geschichte der Katzengraben-Presse mit den „Ost-Berliner Treppengesprächen“ von Jan Silberschuh, das als letztes Buch der DDR erschien: am 2. Oktober 1990 um 23.59 Uhr. Der Autor hatte Ewald in den turbulenten Zeiten der Wende seine Schublade geöffnet, in die vorher niemand blicken durfte. Hier verwahrte er die Texte, mit denen er die richtigen Worte für die damalige Zeit fand. Ewald publizierte die 59 kurzen Dialoge zweier Männer mit vier unveröffentlichten Illustrationen von Hans Ticha in Restmaterialien der untergehenden DDR, eingeschlagen in einem Einband aus jeweils einer Packpapiertüte mit Stanzungen. Teils ist der Schriftzug „Guter Einkauf“ auf den Tüten noch zu lesen, über Jahre hatte Ewald diese und andere Papiersorten gesammelt.

Ewald stellte das Buch anderntags auf der ersten gesamtdeutschen Buchmesse in Frankfurt vor, gewann prompt den Preis der Stiftung Buchkunst und außerdem die Sympathien vieler Messebesucher. Natürlich ließ das letzte Buch der DDR deutschlandweit die Feuilletons rascheln, innerhalb weniger Wochen war es ausverkauft.

Es war der Erfolg der „Treppengespräche“, der Ewald quasi nötigte, die Katzengraben-Presse zu gründen. Und es war die Wende, die jetzt jedem erlaubte, Bücher zu drucken.

Tatsächlich beginnt die Geschichte der Katzengraben-Presse noch früher, hat sie ihre Wurzeln im anderen Land, das es plötzlich nicht mehr gab. Dort füllte Ewald seine Skizzenbücher mit Fragen. Wie weit etwa eine Stubenfliege käme, würde sie davonfliegen? Warum der Bahnhofsvorsteher die Reisenden nicht persönlich grüße? Harmlose Fragen, bei denen doch jeder wusste, worauf sie abzielten. In einem Land, aus dem man nicht ausreisen durfte und gewisse Dinge nicht laut gesagt wurden, aber Lesungen im Halbdunkel stattfanden. Seine Skizzenbücher, erzählt er nicht ohne Theatralik, hätten sich immer mehr mit Fragen gefüllt. Bis es an der Zeit war, ihnen ein eigenes Buch zu widmen. Wenn auch nicht gedruckt, denn das war ihm als Privatperson in der DDR verboten.

So schrieb er die „Fragen für alle zählbaren Finger“ einfach von Hand auf Papier, das er sich in der Staatsbibliothek organisiert hatte. Über einen Freund holte er dort regelmäßig Papier ab, das über Büchertausch aus aller Herren Länder als brennbares Verpackungsmaterial im Heizkeller landete. Exotische Papiere aus Reis, seltenen Hölzern oder Rinde. „Der ganze Schatz der Welt lag da“, erinnert sich Ewald, noch immer begeistert. „Obwohl wir in der DDR eingeschlossen waren, war alles da“, sagt er und grinst, „man musste nur wissen, wo.“

Als Studenten zogen sie hier ein, der Büchermacher ist seither nicht mehr ausgezogen. Das mittlerweile denkmalgeschützte Haus wurde in den 70er und 80er Jahren seine ganz eigene Republik. Wurde zum Treffpunkt von solchen, die freiberuflich und mit freiem Geist unterwegs waren. „Wenn ich etwas machen wollte, habe ich das halt gemacht“, erinnert Ewald sich, den Trotz noch immer in der Stimme. Immer, sagt er, habe er wissen wollen, wie weit er gehen könne.

Mit Improvisationstalent

Er konnte weit gehen, denn er wusste zu improvisieren. Die Improvisation war für Christian Ewald erst eine Notwendigkeit, dann wurde sie zur Tugend. Immer wenn ein Buch entsteht, frage er sich: „Was machst du nicht?“ Um sich dann den Kopf darüber zu zerbrechen, was übrig bleibt. Mit dieser Schnittmenge verbringt er qualvolle Nächte, die manchmal um vier Uhr morgens damit enden, alles zu verwerfen und nach ein paar Stunden Schlaf von vorne zu beginnen.

Die Sammler wissen das zu schätzen. Einer meinte einst gar tadelnd: „Du bist zu billig, so kann ich dich nicht sammeln.“ Ewald, dessen Bücher um die 80 Euro, als Vorzugsdruck zwischen 200 und 300 Euro kosten, kennt die Liebhaber der Katzengraben-Presse fast alle persönlich. Da kann es schon mal vorkommen, dass er begründen müsse, warum auf Seite 36 ein ganz bestimmtes Komma steht. „Das habe ich extra für Sie gelassen“, antworte er dann. Denn wichtig sei, dass er sich etwas dabei gedacht hat.

Viel überlegt hat Ewald sich etwa bei „Ein Mäerchn“ von „Jcoab und Wlhilem Gimrm“ (2004). Das Buch ist ein einziges Buchstabengewitter, aber dennoch flüssig zu lesen: „Wenn der erste und letzte Buchstabe eines Wortes stehen bleiben, können die Binnenbuchstaben x-beliebig vertauscht werden, und es bleibt trotzdem lesbar“, erklärt der Schriftsetzer.

Wohl hat er sich dem bibliophilen Buch verschrieben, aber er betont auch, dass seine Bücher nicht mit weißen Handschuhen durchgeblättert werden sollen. „Bibliophilie“, sagt Ewald, „ist eine Gratwanderung.“ Er brauche die Benutzerspuren, denn seine Bücher sollen leben können – ein handgemachtes Buch bekomme gerade durch Unvollkommenheiten eine Seele. Für einen Text von Cristóbal Serra hat er solche Spuren vorweggenommen: „Eselsohren“ (2010) besteht aus Textblättern mit eingearbeiteten Eselsohren. Das Material: graue Pappe eines DDR-Restbestands, die sich ein wenig anfasst wie struppiges Eselsfell.

Zwei Herzen, sagt er zum Abschied, müssen in seiner Verlegerbrust schlagen: das des Gestalters und das des Kaufmanns. Letzterer, meint er, wäre er lieber nicht: „Wenn ich nicht von meiner Arbeit leben müsste, würde ich meine Bücher am liebsten verschenken.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.