„Meine Texte sind Sehhilfen für die Wirklichkeit“

DER THEATERMACHER Die Volksbühne würde er durchaus als sein Zuhause betrachten, wobei René Pollesch eigentlich gar nicht der „Stimme seines Herzens“ folgen will. Ein Gespräch über Arbeit und Liebe, Freundschaft und Einsamkeit. Und über die Bühne als den passenden Ort für theoretische Überlegungen

■ Der Lernende: Heute lernt René Pollesch in jeder Probe von seinen Schauspielern und von theoretischen Autoren, die er parallel zu jeder Stückentwicklung liest. Den Bildungshunger des 1962 in Dorheim (Hessen) Geborenen angestachelt hat das Studium der Angewandten Theaterwissenschaften in Gießen von 1982 bis 1989. Sein Vater war Maschinenschlosser, die Mutter Hausfrau. In Berlin lebt er in Prenzlauer Berg.

■ Der Theatermacher: René Pollesch inszeniert regelmäßig in Stuttgart, München, Hamburg, Wien, Zürich und an der Berliner Volksbühne, seinem Stammhaus. Von 2001 bis 2007 war er künstlerischer Leiter des Praters. Zu seinen Komplizen gehören Sophie Rois, Fabian Hinrichs und Martin Wuttke. Mit „Kill your Darlings!“ war er 2012 zum Theatertreffen eingeladen, nicht zum ersten Mal.

■ Der Lehrende: Pollesch ist auch ein gefragter Dozent, der in Gießen, Frankfurt und Berlin seine Theaterpraxis mit Studenten teilt.

INTERVIEW PATRICIA HECHT UND KATRIN BETTINA MÜLLER
FOTOS WILLIAM MINKE

taz: Herr Pollesch, wir haben in Ihren Stücken immer den Eindruck, dass Sie nicht an die Liebe glauben.

René Pollesch: Die Liebe taugt im Moment vielleicht nur noch dazu, Menschen loszuwerden. Wir sagen dann, wir folgen der Stimme unseres Herzens, und verlassen jemanden für einen anderen. Wir gehen dahin, wohin der Zeiger des Herzens jeweils ausschlägt. Wie eine Flipperkugel. Daran glaube ich nicht.

Woran dann?

Viele Philosophen beschäftigen sich im Moment mit der Dauer der Liebe. Dietmar Dath und Barbara Kirchner lesen in Adornos Sätzen über die Treue heraus, „nicht wegzurennen, wenn es kompliziert wird“. Die Rede für eine dauerhafte Liebe kann ich sehr teilen. Aber auch dahinter vermute ich etwas, was ich problematisch finde.

Nämlich?

Die große, wahre Liebe begegnet einem in Erzählungen und Theaterstücken. Zum Beispiel die Liebe, die mit dem Tod der Liebenden endet. Aber wenn von uns jemand vor den Trümmern seiner Beziehung steht, wird er durch seine Freunde natürlich zum Weiterwurschteln aufgefordert.

Indem die sagen: Du kannst dich doch jetzt nicht umbringen …

Ja. Die sagen: Dein Herz ist gebrochen, ja gut – aber es kommt schon wieder jemand anderes. Aber wenn es um die große Liebe geht, was soll dann dieses Konzept von Am-Leben-Bleiben? Es gibt keine Liebe nach der Liebe.

Ihnen fehlt das Absolute.

Ja. Warum kommt nach der Liebe die nächste? Keine Ahnung, aber das ist das, was wir leben. Und das halten wir für die Stimme unseres Herzens. Und das ist im Moment eben das Werkzeug der Gesellschaft, um jemanden loszuwerden. Aber wenn man Liebe radikal und ernst nimmt, ist sie nicht unbedingt anschlussfähig. Wenn ich jetzt sagen würde: Ich habe versucht, die wahre Liebe meines Lebens zu finden, das ist gescheitert, und jetzt ist mein Leben eben zu Ende. Dann sagen meine Freunde natürlich nicht, ja klar, René, wir verstehen das, du musst dich umbringen. Ich verstehe auch nicht, warum der Papst zurücktritt. Sophie Rois hat mir neulich gesimst: Nicht mal auf die Kirche ist Verlass! Der biopolitische Terror um uns herum sagt: Bleib am Leben!

Ist es nicht auch ganz okay, am Leben zu bleiben?

Ja. Aber es gibt doch immer wieder Leute, die sich umbringen. Und man denkt dann leider nur, dass die verrückt sein müssen.

Trotzdem ist die Liebe oft Gegenstand in Ihren Texten.

Weil sie im Theater dazu benutzt wird, um eine Gemeinschaft zu beschwören. Und weil sie ein Bereich ist, in dem wir alle miteinander zu tun haben sollen. Weil jeder denkt, Liebe sei anschlussfähig. Mit jedem Song, mit jedem Film darüber mehr. Hauptsache, das Wort „Liebe“ fällt dauernd. Im Theater geht es um Kommunikation. Und da gibt es eben einen konsensfähigen Liebesbegriff, den man in die Luft wirft, um alle ins Boot zu holen. Diese Kommunikation ist dann aber eine, die auf einem weit weniger radikalen Liebesbegriff beruht. Meine Frage ist jetzt, wie kann man auf dem nicht so heruntergedimmten Liebesbegriff eine Kommunikation aufbauen? Also nicht auf den Konsens. Sondern auf die singuläre Liebe, also so, wie Heidegger an Hannah Arendt schrieb: Es gibt nur deine und meine Liebe. Die Frage ist im Theater doch immer, erreicht man die Zuschauer durch heruntergedimmte Meinungen, die alle teilen können? Oder mit dem, was nicht zu teilen ist. Die beste Lösung ist, finde ich, sich nicht auf die Zuschauerposition zu stürzen, sondern auf das nicht Anschlussfähige. Macht man Theater für die auf der Bühne oder fürs Publikum?

Und, wissen Sie es?

Ich mache es für mich, und die Schauspieler machen es für sich. Da ist doch wenigstens sicher, dass man an niemandem vorbeizielt. Ich denke nicht: Ah, jetzt muss ich in Berlin ein Stück machen, dann mache ich mal eins über die Liebe. Sondern ich treffe auf Schauspieler, die sagen: Ich verstehe das auch nicht, warum man sich nicht aus Liebe umbringt. Oder: Warum scheint niemand mehr für die Liebe bezahlen zu wollen? Mit seinem Ruin. Mit seinem Leben.

Kommt bei Ihrer Arbeit oft Überraschendes heraus?

Immer. Anders würde mich das gar nicht interessieren. Ich komme nicht mit einer Vision zu den Proben und versuche die dann durchzuziehen.

Was wäre schlimm daran?

Ich bin gegen das Durchexerzieren von Ideen. Wenn ein Regisseur mit einer Idee kommt, kann die nur besser werden, wenn viele Leute draufgucken. Alles andere läuft nur auf ein Theater zu, das so tot ist, wie es nun mal das Durchexerzieren der Idee eines Einzelnen ist. Ich liefere eine Idee und ein Thema und Textmaterial. Und dann geht es darum zu schauen: Kann man die Texte benutzen? Dienen die zu etwas? Sind das Instrumente, um auf das eigene Leben zu sehen? Wenn nicht, verwirft man sie.

Sie reisen viel, Sie inszenieren in Berlin, Stuttgart, Hamburg, Zürich. Erschwert die Pendelei die Arbeit?

Neue Leute kennenzulernen macht Spaß. Nur der Arbeitsprozess dauert dann manchmal länger, weil die normale Praxis dort ist, sich anzueignen, was Regisseur und Autor da mitbringen. Schauspieler, die mich nicht kennen, denken natürlich erst mal, das ist Koketterie, wenn ich sage, wenn der Text euch nicht interessiert, muss ich eben einen neuen schreiben. Ich finde, das Erste, was wegmuss, ist die Gewohnheit, sich die Themen anzueignen. Die Schauspieler haben ja auch ihre Themen. Es geht eben darum, sich zu emanzipieren von der Hand des Daddys. Für mich ist es wichtiger, das, was ich an Themen und Texten mitbringe, mit allen Beteiligten zu überprüfen: Geht das die Schauspieler an? Und wenn es uns was angeht, dann sieht man bei der Premiere Leuten zu, die immerhin an etwas arbeiten, was sie angeht.

Aber da ist doch wieder die Flipperkugel. Sie treffen hier auf Leute und dort, und immer sind es andere.

Aber dabei folge ich nicht der Flipperkugel namens „Stimme meines Herzens“. Ich folge dabei nicht meinem Inneren, als käme meine Arbeit hier raus (deutet auf sein Herz).

Warum kämpfen Sie so gegen das Bild des Künstlers, der etwas aus sich herausnimmt?

Ich kann nicht deshalb schreiben, weil das in mir steckt, sondern weil ich das gelernt habe. Ich habe Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen studiert, wo es ein anderes Paradigma gab. Und zwar: erst die Inszenierung, dann der Text. Das generiert bis heute mein Schreiben.

Also eine erfolgreiche Ausbildung?

Ja. Denn es fing ja so an, dass alle Leute, an die ich meine Texte schickte, sagten: Nee, das sind keine Theatertexte. Ich habe die an Verlage verschickt, wie man das macht, wenn man Autor sein will, und bekam dann zurück: „Na ja, Sie beziehen sich da ein bisschen auf Heiner Müller und so, aber diese Fußstapfen sind Ihnen zu groß.“ Also man hofft, dass Papa einem sagt, dass man es gut gemacht hat, und dann das! Und dann kann man entweder so weitermachen, oder man fängt an, sich davon zu emanzipieren, dass die anderen einem sagen, was Theater ist und was Theatertexte. Und das lernte ich da.

Hätte es einen Plan B gegeben?

Also meine Eltern, die nichts mit dem Theater zu tun haben, die waren schon sehr sorgenvoll. Ich konnte mit Mitte, Ende zwanzig mal als Dramaturg arbeiten und vier Jahre später musste ich dafür Steuern bezahlen. Geld, das ich nicht mehr hatte. Da mussten meine Eltern einen Kredit aufnehmen für mich und bürgen. Da denken Eltern schon, hätten wir uns doch durchgesetzt mit dem Wunsch, dass er eine Bankkaufmannslehre macht.

Wer weiß, wie viel Schulden Sie dann gemacht hätten.

Ja. Bankkaufleute sind auch nicht mehr, was sie mal waren. Die wollen sich auch selbstverwirklichen und nehmen Drogen. Vor allem die wahrscheinlich, und nicht die Künstler.

Welcher Wert hat der Text für Sie als Künstler?

Man ist während eines Studiums aufgefordert, sich Theorien anzueignen. Aber das garantiert nicht, dass man versteht, dass sie auch zu irgendetwas anderem gut sind, als sie in Bibliotheken herumstehen zu lassen. Von meinen Texten möchte ich, dass man sie benutzt, dass sie einen Gebrauchswert haben. Das sind Sehhilfen für die Wirklichkeit. Für bestimmte Verhältnisse, in denen wir stecken.

Ziehen Sie sich zurück zum Lesen?

Ich lese und ich schreibe dauernd. Weil es nicht aufgehört hat, mir Spaß zu machen.

Ist das nicht eine sehr einsame Form von Arbeit?

Ich sitze ja nicht ein halbes Jahr am Schreibtisch und gehe dann auf die Bühne. Ich mache immer beides gleichzeitig. Ich bin auf Proben mit Leuten zusammen, habe Teil an etwas sehr Sozialem, was sehr wichtig ist für mich, und daneben geh ich eben dem Schreiben nach.

Wie wichtig sind Arbeitsbeziehungen?

Meine festesten und treuesten Beziehungen sind Arbeitsbeziehungen. Es ist ja auch nicht zu verachten, dass man sich beim Arbeiten gern zusieht.

Freundschaft ist wichtig für die Arbeit?

Ein herrschender Liebesbegriff sagt ja: Die Liebe ist das eine, die Arbeit ist das andere. Aber dass man sich wahrscheinlich zu Hause mehr langweilt als auf der Arbeit, das wird weggelassen.

Das gilt vor allem für privilegierte Arbeitsplätze wie die Volksbühne. Ist die eine Art Zuhause für Sie?

Ja. Und es ist ein Grauen für mich, zu überlegen, was nach 2016 passiert …

wenn Frank Castorfs Intendanz zu Ende geht …

… wenn wir hier nicht mehr unsere Basis haben. Was wird das für ein Arbeiten, wenn man nur noch einsam auf Bahnhöfen rumhängt? Das ist tatsächlich der Schrecken, den ich momentan noch mit der Volksbühne kitten kann.

Die Volksbühne hat als Haus viel Kritik erfahren in den letzten Jahren. Halten Sie ihr auch deshalb so sehr die Treue?

Es geht ja seit zwei Jahren schon wieder stark bergauf. Aber davor gab es eine Menge Bashing. Da wurden mit die besten Sachen, die wir gemacht haben, ignoriert.

Ist weniger beachtet zu werden nicht eine Kränkung?

„Ein herrschender Liebesbegriff sagt ja: Die Liebe ist das eine, die Arbeit ist das andere“

Es gibt Momente der Kränkung. Aber die haben für mich mit dieser vorinstallierten Regieposition zu tun: Der Regisseur fühlt sich gekränkt, wenn seine Position infrage gestellt wird – und genau das will ich ja. Wenn da noch Kränkungsreste sind, müssen die mich interessieren.

Und wie ist das mit der Beachtung bei der Arbeit?

Ich operiere nicht mit einem Geheimwissen bei der Probe. Ich tue nicht so, als gäbe es in mir was, das Großes herstellt. Wenn mehrere Leute zusammenarbeiten, kann etwas entstehen, das über sie hinausgeht. Und wenn sie sich dabei gegenseitig in Ruhe lassen.

Wirklich? So demokratisch?

Ich rede zum Beispiel dem Bühnenbildner nicht in seine Arbeit rein. Meine Aufgabe ist es, mit dem, was er gemacht hat, was anzufangen. Das Demokratische an uns ist, dass jeder seine Arbeit macht. Meine ist es, einen Text herzustellen, der eine Idee beinhaltet, die die Schauspieler bewegt. Dann muss ich auch niemanden mehr durch die Gegend scheuchen: „Du, ich habe mir das so vorgestellt, zu dieser Tür kommst du rein, machst das und das, und da gehst du ab.“ Das sind Unterweisungen, aber keine Ideen, die bewegen.

Sie vertrauen Ihren Schauspielern.

Schauspieler wissen, was sie brauchen, um gut zu sein. Ich würde nie etwas von einem Schauspieler verlangen, bei dem er nicht zu dem kommt, was er braucht.

Warum ist gerade die Bühne Ihr Ort, Theorie zu verhandeln?

Ich bin ein Theatermann. Ich bin leider kein Philosoph geworden und kein Soziologe. Ich bin zu einer Zeit aufgewachsen, in der der Künstlerberuf immer stärker aufgewertet wurde. In meiner Generation ging das ja los, dass mehr und mehr Leute kreativ sein wollten.

Aber warum gerade Theater?

Ich bin in meiner Schulzeit in einer Theater-AG gelandet, um Freunde kennenzulernen. Und als es später um die Frage ging, was ich studieren wollte, fand meine Mutter, die wusste, Theater beschäftigt mich, eine Anzeige für den Studiengang in Gießen, der damals gerade aufgebaut wurde. Da dachte ich, ich bewerbe mich mal. Das war der erste Jahrgang.

Das Studium hat Sie sehr geprägt?

Ein Kommilitone sagte mir mal: Was wir in Gießen eigentlich gelernt haben, ist die Chuzpe zu wissen: Was wir hier machen, das ist es.

Hat es Ihrer Entwicklung auch geholfen, dass Sie aus Verhältnissen kommen, die nicht bildungsbürgerlich waren?

Ja. Ich musste meine Väter nicht killen. Ich hatte keinen so großen Respekt vor einem herrschenden Literatur- oder Theaterbegriff – das hat mich entlastet. Mehr Leute sollten weniger Respekt haben.

Aber Sie haben großen Respekt vor den Philosophen, die Sie immer wieder anführen.

Ich habe vor allen möglichen Leuten Respekt, vor den Schauspielern, vor den Bühnenbildnern. Aber nicht vor dem Paternalismus und nicht vor Institutionen. Wir sind alle ein bisschen trotzfrigide.