Foto-Ausstellung Lewis Baltz: Stätten des Verfalls

Die Werke des Fotografen Lewis Baltz sind dominiert von Manipulation und Zerstörung. In Hannover ist nun eine Retrospektive zu sehen.

Urbane Einöde: Tract House Nr. 9 von 1971 aus der Serie „Tract Houses“. Bild: Galerie Thomas Zander

In künstliches rotes Licht ist die Piazza Sigmund Freud in Mailand getaucht. Die Nachtaufnahme von 1989 stammt von dem amerikanischen Fotografen Lewis Baltz, der 1945 in Newport Beach geboren wurde und heute zu den wichtigsten Fotografen der Gegenwart zählt. Die Fotografie zeigt eine unspektakuläre Sicht auf einen Parkplatz im Zentrum der Stadt: urbane Einöde aus Autos, Absperrungen, Hochhäusern und sternenlosem Himmel.

Wie Sigmund Freud, aus unerfindlichen Gründen Namensgeber des Platzes, analysiert Lewis Baltz die Vielschichtigkeit der alltäglichen Wirklichkeit und dringt dabei ins Innere der Gesellschaft vor. So wie auf der Nachtaufnahme deutlich wird, dass Städte nur noch Orte des Transfers sind, in denen Menschen arbeiten, schlafen und konsumieren und die Architektur sich zu einem befremdlichen Artefakt entwickelt hat, verweisen auch andere Bilder und Wandinstallationen auf einen komplexen Prozess von Entfremdung, Zerstörung und Manipulation.

Das Kunstmuseum Bonn und die Hannoveraner Kestnergesellschaft zeigen erstmals in Deutschland eine umfassende Retrospektive und öffnen den Blick für ein vielfältiges und wichtiges Werk. Schon Baltz’ erste Arbeiten beweisen ein untrügliches Gespür für die Kulminationspunkte eines urbanen und technoiden Fortschrittsdenkens.

„Prototype Works“ (1967–76) zeigt Ausschnitte der städtischen Struktur: flächige Schwarz-Weiß-Aufnahmen mit harten Kontrasten, auf denen Fassaden, Fenster, Automobile, Schilder und Straßenecken zu sehen sind. Prototypisch ist die Stadtlandschaft, weil die Artefakte industriell, abweisend und überall gleich sind.

Alltagsbezug der Pop-Art

Schon in diesen ersten Arbeiten zeigen sich Bezüge zur bildenden Kunst jener Jahre: der Alltagsbezug der Pop-Art, die Reduktion des Minimalismus, die Genauigkeit der Konzeptkunst. Alle Formen durchdringen sich, und Baltz übersetzt die Prämissen in ein konsistentes Fotografiekonzept. Das sieht auch Leo Castelli, der wichtige New Yorker Galerist, der dem jungen Fotografen für seine Arbeit „Tract Houses“ (1969–71) eine erste Einzelausstellung einräumt.

Baltz arbeitet umfassend und genau. Die „Tract Houses“ konzentrieren sich auf die Struktur und Materialität von Fertighäusern und Baugrundstücken. Die abstrakten Formen verraten dennoch sehr viel über den bürgerlichen Geist von Eigentum und Inbesitznahme, den die Häuser, die auf freiem Feld vor den Toren der Stadt entstehen, verkörpern.

Konsequent erweitert er seinen Blick und seine Sujets. „The New Industrial Parks Near Irvine“ (1973–75) zeigt Industriegelände und -architekturen mit ihren ebenfalls gleichförmigen und abweisenden Oberflächen.

Unmöglich zu sagen, was hinter diesen geschieht. Hier zeigt sich bereits die fatale Logik einer modernen industriellen Produktion, die Verantwortung und Fertigung so flexibel aufteilt und geschickt verschleiert, dass am Ende niemand genau weiß, wer was wo produziert hat. „Schau dir das an …, du weißt nicht, ob sie Strumpfhosen oder Mega-Tod herstellen“, bringt Lewis Baltz die Situation auf den Punkt.

Frontaler Blick

Die Arbeiten „San Quentin Point“ (1981–83) und „Candlestick Point“ (1984–88) zeigen die Abgründe einer städtischen Kultur, die auf Konsum, Wachstum und einem vordergründigen Begriff von individueller Freiheit basiert. Und das, obwohl Baltz nichts anderes tut, als den Blick frontal auf das zu richten, was er sieht: Verkrustungen aus Plastikmüll, Holzreste, Elektroschrott, Autowracks, von Freizeitschützen mit Waffen zerballerte Haushaltsgeräte oder überwucherte Brachflächen und verwilderte Gebüsche bilden die Randgebiete der Stadt.

Diese peripheren Orte sind auch Stätten des sozialen Verfalls: Diebstahl, Drogensucht und Obdachlosigkeit bilden sich gleichermaßen neben dem Raubbau an der Natur in den Landschaftstableaus ab. Kein Pathos und keine moralische Attitüde verstellen den Blick. Baltz fokussiert Zerstörung und Besitznahme, Verführung und Erniedrigung, Progression und Entropie als gesellschaftliche Tatsachen.

Lewis Baltz’ fotografische Wurzeln liegen in den 1970ern. Eine Zeit, in der die Fotografie in Frage gestellt, analysiert und konzeptuell erweitert wird. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Künstler nicht in einem gefundenen Modus verharrt, sondern bereit ist, seine Arbeit weiterzutreiben. Oder wie es sein Freund, der Berliner Fotograf Michael Schmidt, 1989 formuliert: „Wenn ich mir Deine Bücher ansehe, fällt mir auf, dass Du mit jedem Buch das vorherige korrigierst. Das verrät Offenheit und vielleicht auch Unzufriedenheit mit dem Geleisteten.“

Nur wer sich verändert, bleibt sich treu. Und das beweist Baltz fulminant, indem er Ende der 1980er Jahre seine Arbeit komplett umstellt. Jetzt sind keine kleinteiligen, umfangreichen Schwarz-Weiß-Tableaus an der Wand zu sehen, sondern großformatige, farbige Einzelbilder. „Sites of Technologies“ (1989–91) heißt dieser Werkkomplex.

Orte der dritten industriellen Revolution

Hier sind die Orte der dritten industriellen Revolution zu sehen: digitale und molekulare Welten der Hochtechnologie. Baltz zeigt Räume, deren Funktion, Aufbau und Verortung unklar bleiben. Kühles künstliches Licht, glatte aseptische Oberflächen und technoide Apparaturen prägen die Interieurs. Verwaltung und Labor arbeiten hier Hand in Hand.

Mit der großen Wandarbeit „Ronde de Nuit“ (1992–95) verdichtet Baltz perfekt seinen fotografischen und gesellschaftlichen Diskurs. Die Collage macht die mediale Durchdringung des Alltags durch Überwachungskameras und unsere Abhängigkeit von Maschinen und technischen Bildern deutlich.

Wie Fotografien Geschichten und Geschichte generieren, zeigt er in „The Deaths in Newport“ (1989–95). Eingeladen, für ein neu geplantes Museum in seiner Heimatstadt eine Arbeit zu realisieren, recherchiert er einen Mordfall aus dem Jahre 1947. Ein Ehepaar wird an Bord der eigenen Yacht im Hafen von Newport durch eine Explosion getötet. Reste des Sprengstoffs an Bord belegen, dass es sich um ein Verbrechen handelt.

Tochter des Mordopfers

Verdächtigt werden die Tochter des Mordopfers und ihr Verlobter. In einem widerspruchsvollen und langwierigen Strafprozess werden die korrupten Beziehungen der Stadtverwaltung und die schlampige Polizeiarbeit an die Oberfläche gespült.

Das Urteil lautet dennoch: „nicht schuldig“. Baltz rekonstruierte anhand von Archiv- und Zeitungsbildern den Ablauf und die soziale Dimension des Falls. Die Arbeit wird schließlich von den städtischen Auftraggebern abgelehnt: Zu viele Akteure würden noch heute in Newport das gesellschaftliche Leben prägen.

Selbst 50 Jahre später funktioniert die Verdrängung und Tabuisierung. Und Lewis Baltz bewies abermals sein sicheres Gespür für die Sollbruchstellen des sozialen Konsenses. Baltz zeigt uns eine selbst gemachte Welt, die immer wieder außer Kontrolle gerät und deren Technik und Ästhetik machtvoll und monströs ist, ganz gleich, ob es sich um die Produktion von Gütern oder Bildern handelt.

Kestnergesellschaft, Hannover, 14. 9. bis 4. 11. 2012. Katalog: „Rule Without Exceptions/Only Exceptions“, Steidl Verlag

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.