Junge Ostdeutsche im Bundestag: Thierses Erben

Diana Golze, Daniela Kolbe und Tankred Schipanski haben verschiedene Parteibücher, aber eins gemein: Sie sind junge Ostdeutsche im Bundestag.

Schieflage im Bundestag: Nur 15 junge Ostdeutsche sitzen hier. Bild: dpa

BERLIN taz | Ganze 15 von 625 Abgeordneten des Bundestages sind jünger als vierzig und in Ostdeutschland verwurzelt. Eine Begegnung mit dreien von ihnen.

Diana Golze: Sie war fünfzehn Jahre alt, als erstmals die deutsche Einheit gefeiert wurde. Sie lebte damals in einer Kleinstadt in Brandenburg, weit weg von Berlin, wo an diesem Abend Fahnen geschwenkt und Freudenfeuerwerke gezündet wurden. Diana Golze war eine Schülerin, die mit Oma und Mutter in einem „Dreiweiberhaushalt“ lebte.

Dass die Zeiten sich geändert hatten, merkte sie unter anderem daran, dass sie plötzlich unendlich viel Freizeit hatte. Die Orchester, in denen sie Mandoline und Tenorhorn gespielt hatte, die Band, in der sie gesungen und Kontrabass gespielt hatte – alles hatte sich aufgelöst. So wie die ganze DDR.

Sie begann selber was auf die Beine zu stellen. Die PDS hat damals den Kleinstadtjugendlichen ihre Räume geöffnet. Das Chaos war ihre „schönste Zeit“. Und das, obwohl sie nur noch mit Reizgas in der Tasche das Haus verließ – Rechte hatten sie und ihren Freund angegriffen. „Ich wollte mich wehren können“, sagt sie. Und: „Ich hatte Angst.“

Heute ist Diana Golze Bundestagsabgeordnete der Linkspartei. Sie ist eines von vier Mitgliedern ihrer Fraktion, die unter vierzig Jahre alt und aus dem Osten sind. Vier von 76. Vier, die quasi mit der vereinigten Bundesrepublik in eine gesamtdeutsche Normalität hineingewachsen sind. Wolfgang Thierse mag auch sie gemeint haben, als er anlässlich seiner Ankündigung, er werde 2013 aus dem Parlament ausscheiden, gesagt hat, es würden weiter Politiker gebraucht, „die Sprachrohr des Ostens sind“. Die noch immer existierenden sozialen, ökonomischen, mentalen Unterschiede müssten von „Politikern mit eigener ostdeutscher Prägung“ zur Sprache gebracht werden, sagte der SPD-Mann.

Diana Golze. Bild: diana-golze.de

Diana Golze findet, dass Thierse recht hat. „Die Angleichung der Rente, der Löhne – das wäre alles längst geschehen, wenn es mehr Abgeordnete gäbe, für deren Wähler das ein echtes Problem ist“, sagt sie. „Wenn es mehr Leute im Bundestag gäbe mit dieser anderen Realität, würden Debatten auch in den Fraktionen anders laufen. Das Wort Osten würde sich dann nicht immer nur auf Kosten reimen.“

Diana Golze lebt diese „andere Realität“. Sie wohnt mit Mann und Kindern in Rathenow, sie ist dort Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung, sitzt im Kreistag. Im Bundestag ist sie familienpolitische Sprecherin ihrer Fraktion, sie sitzt im Familienausschuss und in der Kinderkommission – in beiden Gremien ist sie die einzige Ostlerin. Wenn bei offiziellen Anlässen die Nationalhymne erklingt, erhebt sie sich. „Das ist mein Respekt gegenüber dem Land. Aber ich singe die Hymne nicht mit. Weil es nicht meine ist.“

Dieses Jahr wird Diana Golze ins Rathenower Rathaus gehen, wie jedes Jahr gibt es einen Empfang der Stadtverordneten zum Tag der Deutschen Einheit. Danach geht sie feiern. Ihr Mann hat am 3. Oktober Geburtstag.

Tankred Schipanski: Wer so einen Namen trägt, muss aus Thüringen stammen. Der CDU-Abgeordnete hat zwar eine Gelfrisur wie Karl-Theodor zu Guttenberg und eine randlose Brille wie Edmund Stoiber. Auch der dunkelblaue Anzug sitzt so perfekt, wie es die Umgangsformen des 35-Jährigen sind. Aber kein Westler heißt Tankred Schipanski.

Tankred ist der Sohn von Dagmar Schipanski. Die Naturwissenschaftlerin wurde 1999 schlagartig bundesweit bekannt, als sie für die Union bei der Wahl zum Bundespräsidenten antrat und verlor. Ihrem Sohn gab sie einen seltenen Vornamen, geläufig vor allem durch den Dramatiker Tankred Dorst – einen Thüringer.

Der CDU-Abgeordnete Schipanski hat es gut getroffen. Sein Berliner Abgeordnetenbüro ist in einem schicken Neubau, knapp ein Jahr alt, ganz oben im sechsten Stock. Im Scherz sagt Schipanski, um diesen Ausblick zu kriegen, habe er mit den Leuten von der Bundestagsverwaltung ordentlich was trinken müssen. Aber in gewisser Weise sagt dieser Satz schon viel aus darüber, wie ein Abgeordneter einer Regierungsfraktion Politik machen muss, wenn er aus dem Osten stammt.

Tankred Schipanski. Bild: dpa

„Wir als Ostdeutsche“, sagt Schipanski in seinem Büro, „sind gemeinsam nur so groß wie die CSU.“ Die Bayern sehen sich ganz selbstverständlich als Lobbyisten ihres Bundeslandes. „Das Marketing können unsere westdeutschen Kollegen einfach besser.“ Die Parlamentarier aus dem Osten haben nicht so viel geballte Macht. Um sich durchzusetzen, müssen sie andere Wege finden. Sie müssen sich ihre Verbündeten erst suchen. Erst recht, wenn sie sich, wie der gelernte Jurist Schipanski, um die Bereiche Bildung und Forschung kümmern. Die sind schließlich größtenteils Ländersache.

Dass Tankred Schipanski diese Felder beackert, und das für die Union, war geradezu unvermeidlich. Mutter Dagmar war Wissenschaftsministerin in Thüringen, sitzt bis heute im CDU-Bundesvorstand. Mutter und Sohn tauschen sich aus über politische Themen, aber Tankred geht längst eigene Wege.

13 Jahre alt zum Mauerfall

Seine Stationen nach der Schulzeit im Städtchen Ilmenau hießen Bayreuth und Wien, später Mainz, Ottawa und Frankfurt am Main. „Ich bin in den Westen gegangen, um zu sehen, wie der tickt“, sagt Schipanski. Der Mittdreißiger war 13 Jahre alt, als die Mauer fiel. „Wir haben die DDR schon bewusst wahrgenommen“, urteilt er, „mit ihren Vor- und Nachteilen.“ Vor allem war seine Generation jung genug, um sich auf die neue Zeit einlassen zu können. Fast verächtlich erzählt Schipanski von den Machtpokern im Bundesrat. Dort würden Länder schachern wie auf dem Basar. Doch zugleich versteht er, dass es auf die Dauer nichts bringt, nur abgestoßen daneben zu stehen.

Politiker brauchen Netzwerke, um sich durchzusetzen. Ostler haben lediglich andere als Westler. Deshalb ist Schipanski auch Mitglied in der fraktionsinternen Truppe „Aufbau Ost“. „Wir haben uns bewusst entschieden, die Gruppe in dieser Legislatur noch einmal zu gründen.“ Die Abgeordneten sehen ihre Herkunft immer stärker als Vorteil. Die Folgen des demografischen Wandels, die viele im Westen bislang nur vom Hörensagen kennen, sind hier längst Alltag. Der Osten als Vorbild.

In der Bildung, beispielsweise. Wenn die Zahl der Schüler abnimmt, legt man halt Schulen zusammen. Für den Thüringer war das keine große Sache. Als Schipanski Ende vergangenen Jahres auf dem Bundesparteitag in Leipzig war, merkte er, dass es doch noch einiges gibt, was ihn von seinen westdeutschen Parteifreunden trennt. Da ging es um längeres gemeinsames Lernen und das Abitur in 12 statt 13 Jahren. „Für mich war das völlig normal“, sagt Schipanski mit einem Lächeln, „aber für die westdeutschen Länder ein Kulturschock.“

Noch etwas unterscheidet Ost und West. Es gibt im Osten kaum Erbhöfe: Wahlkreise, in denen auch der Sohn vom Dorfdepp gewählt wird, wenn er bloß das richtige Parteibuch hat. 2009 setzte sich Schipanski mit gerade mal 30 Prozent der Erststimmen gegen SPD und Linke durch. Im kommenden Jahr könnte es anders laufen, das weiß auch er. Aber er hat ja Erfahrung mit Umbrüchen.

Daniela Kolbe: Auf bundestag.de kann man es nachlesen. Die SPD, zweitgrößte Fraktion im Parlament, hat gerade mal zwei Abgeordnete mit ostdeutschen Wurzeln, die unter vierzig sind. Einer ist der Finanzexperte Carsten Schneider. Die andere ist Daniela Kolbe.

Daniela Kolbe. Bild: dpa

Zweiunddreißig Jahre alt ist die Frau aus Thüringen, ihr Wahlkreis ist der Leipziger Norden. Als sie vor drei Jahren in den Bundestag einzog, war sie überrascht, als sie ihre erste Fraktionssitzung besuchte. „Dass ich mit meinen damals 29 Jahren tatsächlich die jüngste Abgeordnete war, das hat mich schockiert“, erzählt sie. Der Grund liegt für sie auf der Hand: Es ist das „historisch miserable Ergebnis“ der SPD bei der Bundestagswahl 2009. „Damit sind sowohl die jungen als auch die ostdeutschen Abgeordneten dezimiert worden.“

Inzwischen hat sie sich eingefuchst. Fragt man unter Abgeordneten nach, von wem man unter den jüngeren Parlamentariern ganz sicher noch hören werde, fällt stets der Name Daniela Kolbe. Sie ist Mitglied im Innenausschuss und seit anderthalb Jahren leitet sie die Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität. Das Gremium diskutiert, wie die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts ein erfülltes Leben führen können. Wie das Glück des Einzelnen gemessen werden kann, was die Politik für die Zufriedenheit der Bürger tun kann oder nicht, und was letztlich gelungenes Leben ausmacht.

Daniela Kolbe selbst stellt sich gerade genau solchen Fragen. Das Leben hat sie vor ein schwerwiegendes Problem gestellt: Im Mai wurde bei ihr Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert. Sie hat gerade ihre Chemotherapie abgeschlossen, jetzt wartet sie auf die Abschlussuntersuchung. Der offene Umgang mit ihrer Krankheit ist ihr wichtig, sagt sie. Dass Politiker wie Wolfgang Bosbach von der CDU oder der Grüne Christian Ströbele offen über ihren Krebs sprechen, bedeutet ihr viel. Das nimmt auch anderen die Beklemmung. „Ich stehe mitten im Leben“, sagt sie.

Spielt es, wenn es doch ums Ganze geht, überhaupt noch eine Rolle, wo man herkommt? Ja, sagt Kolbe, „ich habe eine ostdeutsche Identität, ich habe die Transformationserfahrung noch mitgemacht.“ Sie war zehn Jahre alt und lebte in einem Dorf in Thüringen, als in Berlin gefeiert wurde. Sie kann sich noch an das Feuerwerk erinnern, das sie im Fernsehen sah. Ihre Eltern, der Vater Forstarbeiter, die Mutter Köchin, waren fertig mit der DDR. Der Vater durfte nicht studieren, er hat dann nach der Wende noch die Ausbildung zum Forstverwalter draufgesattelt. Die Mutter hat nach 89 „viele Brüche erlebt“ und arbeitet heute bei einem Autozulieferer.

Statt wie erträumt Politik und Philosophie zu studieren, wurde die naturwissenschaftlich begabte Tochter Physikerin. „Meine Eltern haben mir was gehustet und gesagt, ich soll mal was Vernünftiges studieren. Aber schon während des Studiums wurde klar, dass ich das hier nur fertig mache und dann in die Politik gehe.“ Über die Falken und die Jusos kam sie zur SPD. Nun also das Parlament, sie fühlt sich da „gefordert und gebraucht“. Ja, auch als Ostdeutsche. Aber jetzt, sagt sie, muss sie los. Sie hat einen Termin bei ihrer Onkologin. Die will sie nicht warten lassen.

Update, 3.10. Fotokorrektur: Das Bild von Diana Golze, zeigte bisher ihre Abgeordnetenkollegin Kerstin Keiser.

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