Wenn die einzige Tochter auszieht: Wie eine Trennung, nur schlimmer

Ein verwaistes Zimmer, hin und wieder eine SMS. Wie ist es für eine Mutter, wenn die einzige Tochter auszieht? Für die eine ist es großartig, die andere trauert.

Und auf einmal ist da so viel Raum zwischen Mutter und Tochter. Wie geht man damit um? Bild: Mr. Nico / photocase.com

Zerfledderte Kinderbücher, eine kaputte Lampe und eine leere Bierkiste: Das ist alles, was von ihr hiergeblieben ist. Seit meine Tochter vor ein paar Wochen ausgezogen ist, stehe ich oft in ihrem leeren Zimmer. Die Luft ist schlecht, es hallt, es ist kalt.

Manchmal starre ich minutenlang auf die kahlen Wände. Es ist das größte Zimmer in der Wohnung, es geht zum Hof, und im Sommer wirft der Götterbaum immer mal ein paar Blätter durchs geöffnete Fenster. Was mache ich damit? Vermieten? Selber einziehen?

Wenn diese Gedanken in mir hochkriechen, gehe ich ganz schnell wieder raus und schmeiße Franz Ferdinand in den CD-Player. Meine Tochter ist gerade 18 geworden, seit Oktober studiert sie Mathematik. Das ist großartig, ich bin stolz auf sie. Und fühle mich so einsam wie schon lange nicht mehr. Früher habe ich es belächelt, wenn Freunde, die den Weggang ihrer Kinder schon hinter sich haben, sagten: Das ist wie eine Trennung.

Heute weiß ich: Es ist viel schlimmer.

Mit meiner Tochter sind nicht nur all ihre Möbel, ihre Bücher und ihre unzähligen Schuhe ausgezogen. Sondern auch ihre Fröhlichkeit und ihr Humor, unsere Innigkeit und unsere Vertrautheit. Machmal saßen wir abends nebeneinander auf dem Badewannenrand und plauderten: über die Schule, ihre Freunde, die Liebe und das Leben. Gern tänzelte sie vor mir herum und sang irgendetwas. Ich verstand nichts, weil sie die Zahnbürste im Mund hatte.

„Ich zieh zu Papa“

Sie ist mein einziges Kind, ich habe sie allein großgezogen. Wir haben eng zusammengelebt, unsere Beziehung war intensiv. Vor allem in unseren dramatischen Phasen, wenn Streite, Flüche und Verwünschungen wie Blitze durch die Wohnung schossen. Wenn ich die "beschissenste Mutter auf der ganzen Welt" war und sie das "renitenteste Kind überhaupt". Wenn sie drohte: „Ich zieh zu Papa“, und ich zischte: „Viel Spaß!“

Das ist lange vorbei und unsere letzten drei Jahre waren Freude pur. Manchmal hat sie Chili-Pommes mit Käse in den Ofen geschoben und eine DVD in ihren Laptop. „Los, Mama, jetzt machen wir es uns gemütlich.“

Ich war nie eine Helikopter- und auch keine Gluckenmutter. Neben dem Leben mit dem Kind hatte ich auch immer mein eigenes. Ich musste nie auf Kino, Theater, Clubs und Liebhaber verzichten. Es tröstet mich nicht, wenn Freunde sagen: Dann hast du wieder Zeit für all das, was du lange nicht machen konntest.

Ich bekomme jetzt viele Einladungen – damit ich nicht so allein bin. Ich werde öfter als sonst zum Essen ausgeführt – weil das zu zweit schöner ist. Ich kriege massenhaft Bücher geschenkt – obwohl sich meine Regale schon durchbiegen.

Ich vermisse die angerotzten Tempos

Am Wochenende, wenn meine Tochter und ich ausgiebig frühstückten, beobachteten wir von unserer Küche aus die Leute in den Fenstern gegenüber. Wir kennen sie nicht, aber wir haben ihnen Namen gegeben und Wetten abgeschlossen, was sie als Nächstes tun. Ich vermisse die Morgen mit meiner Tochter, wenn ich Kaffee für uns beide kochte. Ich vermisse ihre Socken und die angerotzten Tempos, die überall in der Wohnung verteilt waren. Ich vermisse selbst ihre Freunde, von denen manche mit mir sprachen, als sei ich die Putzkraft in ihrer WG.

Als meine Tochter überlegte, wo sie studieren will, konnte es gar nicht weit genug weg sein. Sie hatte befürchtet, dass ich jedes Wochenende vor ihrer Tür stehe und Sätze sage wie: „Ich habe Rouladen mitgebracht.“ Jetzt sind es zwei Autostunden geworden und ich war bisher ein einziges Mal bei ihr.

Dafür ruft sie jeden zweiten Abend an. Ich kenne inzwischen alle Fachbegriffe in Algebra, Analysis und objektorientierter Programmierung. Ich weiß, was sie abends macht und wer Christian, Thomas und Hannes sind, obwohl ich die noch nie gesehen habe.

An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt ein Foto von uns beiden. Wir schicken uns Mails und SMS. Ich bin nicht bei Facebook. Ich will nicht detektivisch verfolgen, wie meine Tochter in ihr eigenes Leben einsteigt.

Eine Freundin sagte neulich: „Die Nähe bleibt und es wird noch intensiver.“ Im November kommt meine Tochter das erste Mal seit ihrem Umzug "nach Hause". Sie will drei Tage bleiben.

Simone Schmollack, 48, ist Inlands-Redakteurin der taz

******

Meine Tochter hat im Juni Abitur gemacht. Nach der Zeugnisvergabe gingen wir essen, danach verabschiedeten wir uns vor dem Restaurant, da sie noch feiern gehen wollte. Seit diesem Abend ist sie weg.

Die ersten Tage hat sie mir nachts eine SMS geschickt: „Ich bleibe bei Paul“. Kürzlich hat dieser Paul meine Bohrmaschine abgeholt. Ich vermute, die beiden bauen sich in seiner Wohnung ein gemeinsames Nest. Meine Tochter erzählt von Laminatböden, die rausgerissen werden müssen, und orangefarbenen Emailleknöpfen für Kommoden.

Ab und zu gehe ich durch ihr verwaistes Zimmer, um zu lüften. Sie hat nur ihre Kleider, einen großen Teil ihrer beträchtlichen Schuhsammlung und den Computer mitgenommen. Der Rest wartet unter einer dicken Staubschicht darauf, abgeholt zu werden. In meiner Wohnung ist es still geworden. Wenn ich nach Hause komme, ist niemand da und das gefällt mir.

Ich muss nicht mehr kochen

Keine Stolperfallen aus Taschen und Schuhen im Flur und keine unaufgeräumte Küche mehr. „Konnte leider nicht abspülen, das Wasser hat so böse geschäumt“, war eine ihrer besten Ausreden, die sie mir auf einem Zettel hinterließ. Jetzt habe ich freie Bahn. Ich kann mich auf mein Sofa legen, das nicht mehr von ihr besetzt ist, und Musik hören, ohne dass jemand meinen schlechten Geschmack kommentiert. Ich muss nicht mehr kochen, nach der Arbeit nicht in den Supermarkt hetzen, um den Kühlschrank zu füllen, und keine Gespräche führen, obwohl ich meine Ruhe haben möchte.

Manchmal setze ich mich vor den Fernseher und esse und fühle mich in die Zeit zurückversetzt, als ich von zuhause auszog.

Ich fühle mich befreit. Nach der Trennung von ihrem Vater haben wir fast 16 Jahre allein zusammengewohnt. Wir haben eine enge Beziehung. Ich mag alles an ihr. Sie ist sehr aufgeweckt und witzig und versteht im Gegensatz zu mir Mathe und die Abseitsregel beim Fußball.

Ich mag auch ihre Freunde, die durften meine Küche belagern, wann immer sie wollten. Ich ließ mich ins Kino oder gleich zu meinem Freund schicken.

Vielleicht war ich eine Glucke

Und ich war großzügig. Auch wenn meine Tochter sagte: Ich fahre jetzt zwei Tage weg, aber in meinem Zimmer schlafen zwei Jungs, die ich mitgebracht habe. Vielleicht war ich das, was heute Helikoptermutter genannt wird, eine Glucke. Wer sich mit meiner Tochter anlegte, hatte mich an der Gurgel. Im Kinderladen war ich Vorstand, in der Grundschule Elternsprecherin und Delegierte in der Gesamtlehrerkonferenz. Sechs Jahre lang fuhr ich mit auf Klassenreise und buk für jeden Basar Kuchen. Als ich keine Lust mehr hatte, mich in der Schule zu engagieren, übernahm das meine Tochter.

Fasching wollte sie jedes Jahr ein anderes Tier sein. Also nähte ich für die traurige zweistündige Berliner Feier ein Kostüm und kleidete ihre Lieblingskuscheltiere auch mit ein. Ich verbrachte viel Lebenszeit in Arztpraxen. Sie hatte nicht nur ständig Infekte und mehrere Allergien, sondern schiefe Zähne und krumme Beine.

Da sie unbedingt was zum Kuscheln brauchte, mussten zwei Zwergkaninchen ins Haus. Die entwickelten sich zu fetten Monstern, nagten alles an und hatten das Kinderzimmer bald für sich allein. Ihre Allergie gegen Kaninchenhaare machte mich zur alleinigen Tierpflegerin.

Nachdem wir die Kaninchen weggeben mussten, kauften wir einen männlichen Hamster, der zwei Tage später mit fünf kleinen Hamstern im Käfig saß. Für die niederen Arbeiten, wie Stall sauber machen, füttern und zum Tierarzt gehen, wurde ich eingeteilt. Bis zum letzten Schultag habe ich sie geweckt, das Frühstück auf den Tisch gestellt und die Schulbrote eingepackt. Den Sportbeutel habe ich ihr sicher bis zur 10. Klasse nachgetragen.

Kein Warten mehr auf den Schlüssel in der Tür

Und endlich kann ich wieder ruhig schlafen. Nicht mehr dieses unterbewusste Warten, bis ich ihren Schlüssel in der Tür höre. Das konnte lange dauern. Wenn ich Pech hatte, bis fünf Uhr morgens. Wenn ich ganz großes Pech hatte, war sie betrunken und musste noch erzählen, was so los war.

Sobald sie ein Kind bekommt, hat meine Tochter verkündet, würde sie wieder in meine Nähe ziehen, ich könne das ja so gut. Bis es so weit ist, genieße ich meine Freiheit.

Isabel Lott, 50, ist Foto-Redakteurin der taz
Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.