Berliner Szenen: Genuss totalitär

Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier.

Unerwartetes Zeitfenster zwischen zwei Terminen. Auf der Suche nach einem Kaffee stolpere ich in eine Fabrikhalle mit dramatisch-minimalistischer Möblierung, irgendwas zwischen Holzfällerhütte und Hamburger Bahnhof. Ich stolpere deshalb, weil innen vor dem Eingang ein Betonpoller steht, und begreife plötzlich: Ich bin im Pollercafé. Schaurig wie Nessie durchwabert dieser urbane Mythos seit Wochen die Gespräche der Berliner. Eine schrille Pointe zur notorischen Omnipräsenz des Prenzlberger Kindes: das kinderwagen- und kleinkindfreie Café, in dem Erwachsene, verschont von infantilen Ausdrucksformen, fairen Kaffee auf faire Art genießen können. In der Tat ist kein Kleinkind in Sicht. Aber um 10 Uhr früh ist ja in keinem Café Krabbel-Rush-Hour.

Ich werde von drei Rauschebärten hinterm Tresen angelächelt und starre auf die Karte, die jedem Gentrifizierungsklischee spottet. Espresso kauft man hier in Unzen und muss zwischen etwa zehn verschiedenen Bohnensorten wählen. Ich frage, ob ich etwas bekommen könnte, das einem Milchkaffee ähnelt. Ja, das sei möglich, dazu würden soundsoviel Unzen Espresso mit soundsoviel Inch Milch kombiniert, allerdings serviere man aus Prinzip keinen Zucker, aber man empfehle die und die Bohnensorte, die sei süß genug. Aha.

Mit meinem ungesüßten, fairen Kaffee hocke ich auf einem Holzscheit und lese den eingeschweißten Zettel, der dort ausliegt. Darauf steht, falls mein Kind in einem Alter sei, in dem es dazu tendiere, Lärm auszustoßen, möge ich doch erst wiederkommen, wenn es aus dem Alter raus ist. Währenddessen belehrt einer der Rauschebärte einen Gast lautstark über die vielen Bohnensorten. Kinderlärm wäre mir lieber. Eilig kippe ich meinen 3,40-Euro-Kaffee hinunter und verschwinde. Schließlich wurde ich als Kind schon genug erzogen.

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