Reporterin Carolin Emcke: „Ich leide an unbeantworteten Fragen“

Die Auslandsreporterin Carolin Emcke spricht über Krieg, Freiheit, das Wegfahren, das Schreiben, Suchen und Nicht-zufrieden-Sein.

„Mein Wegwollen hat nichts damit zu tun, dass ich wegwill von etwas, ich will zu etwas anderem hin.“ – Carolin Emcke. Bild: imago/Sven Simon

sonntaz: Das Café, in dem wir hier sitzen, heißt Westberlin und will auch Weltcafé sein. Weltcafé, ist das so ein Ort, nach dem Sie, als Auslandsreporterin, als Kriegsreporterin, als Reisende suchen?

Carolin Emcke: Wenn ich in Berlin bin, suche ich nicht nach der Welt. Dann will ich angekommen sein. Es sei denn, Sie meinen mit Weltcafé die Sehnsucht nach etwas Welthaltigem.

Welthaltig – ein schönes Wort, nur was bedeutet es?

Dass man nicht nur um sich selbst kreist. Und dass man offen ist für das, was man nicht versteht. Das missfällt mir am Journalismus, dass Texte oft nicht welthaltig sind. Es wird etwas geschrieben über Menschen, ihren Alltag – aber oft spiegelt es nur das Denken derer, die es aufschreiben. Es weist nicht darüber hinaus. Das Zweite, was mit Weltcafé ausgedrückt wird, ist diese Sehnsucht nach dem Reisen, nach dem Aufbruch, danach, sich ins Offene hineinzubegeben.

Sind Sie eine Suchende, wenn Sie ins Offene hineinreisen?

Das ist eine dieser Fragen, die man, wenn man ehrlich ist, selbst nicht beantworten kann. Wenn Sie mit Suchen etwas meinen, was mit Rastlosigkeit zu tun hat, dann bin ich es überhaupt nicht. Wenn sie mit Suchen aber etwas meinen, was mit Begreifenwollen zu tun hat oder mit einem Nicht-zufrieden-Sein, mit dem, wie wir uns sprachlich und politisch Phänomene aneignen, dann bin ich suchend.

Die Rastlosigkeit ist also intellektuell und nicht emotional?

Ich bin sehr gern auf Reisen. Und wenn ich auf Reisen bin, bin ich gern da, wo ich gerade bin. Ich muss von dort nicht weglaufen, um mir was Neues zu suchen, sondern ich muss verstehen.

Die Journalistin: Sie war Auslandsredakteurin beim Spiegel und in vielen Krisengebieten unterwegs. Seit 2007 ist sie freie Publizistin und internationale Reporterin für die Zeit.

Die Dozentin: Sie hat an der Universität Yale politische Theorie gelehrt, unterrichtet an der Hamburg Media School und hält unter anderem Gastvorträge zu den Themen Menschenrechte und Globalisierung.

Die Autorin: Emcke hat in ihrem letzten Buch, „Wie wir begehren“, über Homosexualität geschrieben, in „Stumme Gewalt“ über die RAF, in „Echoes of Violence“ über ihr Erleben als Kriegsreporterin.

Eine Nomadin?

Nein, Nomadentum hieße, dass man niemals sesshaft wird. Ich bin jetzt seit dreizehn Jahren im Ausland unterwegs, es ist mir dadurch nicht die Vorstellung von einem stabilen Zuhause verloren gegangen. Es ist eher so, dass ich mir andere Gegenden zusätzlich angeeignet habe. Es gibt Orte, an die ich immer wieder fahre. Israel, der Nordirak. Es gibt also Länder, die sind mir vertraut. Mein Wegwollen hat also nichts damit zu tun, dass ich wegwill von etwas, ich will zu etwas anderem hin. Und dann auch wieder zurück. Das ist ein großer Unterschied zu Nomaden. Zumal die, die heute oft so genannt werden, das entweder gar nicht sind, weil sie längst sesshaft sind, oder weil sie das nie freiwillig waren. Es gibt ein Nomadentum aus Not.

Anders als Nomaden begeben Sie sich also, wenn Sie reisen, aus einer Position der Sicherheit in eine der Unsicherheit?

Das ist eine intellektuelle Wendung, mit der ich was anfangen kann. Ein Zuhause taugt ja nichts, wenn man es nie infrage stellt. Eine Vertrautheit, eine Gegend, eine Landschaft wird einem erst spürbar, wenn man weggegangen ist und wieder zurückkommt. Es gibt mehrere Sachen, die mir enorm gut gefallen daran, in Gegenden unterwegs zu sein, aus denen ich nicht komme.

Welche?

Das eine ist die Erfahrung, dass du dort niemand bist. Die kennen nicht meine Familie. Die kennen nicht die Straße, wo ich aufgewachsen bin. Die kennen die Schule nicht, zu der ich ging. Die kennen die Sprache nicht, die ich spreche. Einerseits fällt damit Ballast ab, andererseits auch ein Schutzraum. Ich mag es, dass es in einer mir unbekannten Umgebung, in der ich eine Unbekannte bin, wirklich von mir abhängt, was für eine Art von Begegnung möglich ist.

Von den anderen nicht?

Natürlich hängt es auch von den anderen ab, aber deren Leben ändert sich nicht wie meins, vermute ich. Was wir mit Zuhause oder mit Identität verbinden, sind letztlich Überzeugungen, Rituale, Wahrnehmungen, die man mit anderen teilt. Und es ist etwas Grandioses, dahin zu gehen, wo viele unserer Vorstellungen nichts oder wenig gelten. Denn so muss ich die eigenen Gewohnheiten und Überzeugungen immer wieder neu prüfen. Das heißt nicht, dass ich sie ablege oder schlecht finde, aber es heißt, dass neue Ideen hinzukommen, weil sie einem gefallen oder weil man sich daran gewöhnt.

Sie reisen also wie ins Leere?

Natürlich bin ich auch für die Leute, auf die ich treffe, kodiert. Natürlich sehen die da eine weiße, alleinreisende Frau mit kurzen Haaren, die hat eine Hose an und Boots. Insofern bin ich nicht leer oder neutral. Ich werde kodiert, nur anders als hier. Aber was daraus entsteht, das muss ich herstellen, ohne Schutz. Das mag ich sehr.

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Wenn ich irgendwo bin, suche ich etwas, was mich mit dem Ort verbindet. Meistens suche ich Brot. Oder das, was den Stellenwert von Brot hat. Suchen Sie auch etwas, was Sie in Verbindung bringt?

Musik. Ich versuche mir Gegenden, in die ich fahre, vorher anzueignen, indem ich mir die Musik anhöre, die dort gehört wird. Was Sie sagen, ist schön: nach was zu suchen, was einen verbindet. Eine der großen Schwächen der gegenwärtigen politischen Diskussion ist, dass immer über Identität und Differenz, über das Eigene und das Andere nachgedacht wird. Ich finde es politisch und philosophisch spannender, wenn man nach Ähnlichkeiten sucht. Wenn Sie Brot suchen, werden Sie nicht dasselbe finden wie zu Hause, aber Sie suchen nach etwas, das ähnlich ist. Nicht im Geschmack, sondern in der sozialen oder psychischen Funktion. Sie suchen nach etwas, das Ihnen vertraut ist.

Sie kommen gerade aus dem Gazastreifen zurück. Haben die Leute Brot?

Fladenbrot, Sesambrot, Brot mit Feigen, mit Datteln.

Und wie geht es den Leuten?

Denen, mit denen ich gesprochen habe, geht es viel schlechter, als es die hiesige Presse abgebildet hat. Außerdem geht es ihnen schlechter als im letzten Krieg 2008/09. Ich habe zum Teil die gleichen Menschen interviewt wie damals. Obgleich dieser Krieg viel kürzer war, hatte ich den Eindruck, dass sie sehr viel mehr unter Schock standen. Mein Gefühl war, dass dieser jetzige Krieg das Trauma des letzten reaktiviert. Wie eine Doppelung des Schmerzes. Ich war erstaunt, wie schnell sich die internationalen Beobachter auch wieder zurückzogen. Als ob mit dem Ende des Bombardements der Krieg vorbei sei. Aber Krieg ist nicht vorbei, wenn er vorbei ist.

Sondern?

Die Überlebenden denken weiter wie im Krieg. Sie sind auf der Suche nach Orten, wo sie sich halbwegs sicher fühlen. Die meisten, die ich gesprochen habe, waren während dieses einwöchigen Bombardements ununterbrochen auf der Flucht. Sie haben immer neue Orte gesucht, wo sie hofften, sicher zu sein, um dann erneut zu fliehen. Ich glaube, richtig realisieren, was ihnen widerfahren ist, werden sie erst später. Es ist, wie wenn man kalte Füße in heißes Wasser stellt. Das fühlt sich erst mal nicht gut an, sondern tut richtig weh.

Sie haben über eine Familie aus dem Gazastreifen geschrieben. Die Mutter lebt im Westjordanland und kann nicht zurück. Der Sohn lebt in Gaza und kann nicht raus. Die Mutter umarmte Sie und bat Sie, diese Umarmung an den Sohn weiterzugeben. Aber der Sohn konnte nicht von einer fremden Frau umarmt werden. Da haben Sie die Umarmung der Mutter an den Fotografen weitergegeben, und der hat dann den Sohn umarmt.

Ja, irre. Es war so deutlich an dieser Szene, dass die Mutter nicht mehr weiß, wie sich Gaza verändert hat. Sie ist von dort weggegangen, bevor Hamas an die Macht kam. Sie wusste nicht, um wie viel religiöser die Gesellschaft in Gaza inzwischen geworden ist. Die Mutter hatte mir schon gesagt, ich solle ihrem Sohn sagen, dass meine Umarmung die Umarmung seiner Mutter ist, klar, aber er erstarrte bei dem Gedanken, von einer fremden Frau auf der Straße umarmt zu werden. Als wir auf die Idee kamen, die Umarmung der Mutter auf mich von mir auf den Fotografen zu übertragen, und der Fotograf den Sohn dann umarmte, war er glücklich. Wir hatten alle das Gefühl, etwas weitergereicht zu haben.

Mit dieser Umarmung wurde die Grenze überwunden. Wie schaffen es die Leute in Gaza noch, die Grenze, die sie umgibt, zu negieren?

Eine banale Antwort: Sie haben illegale Tunnel gebaut nach Ägypten. Über einige werden Waffen geschleust, über andere Bedarfsgüter, Lebensmittel, Medikamente, Ziegen, Hühner. Im ganz konkreten Sinne werden diese Grenzen untergraben. Interessant ist allerdings auch – und das gilt nicht nur in Bezug auf Gaza, sondern auch auf das Westjordanland –, dass die Menschen dieses Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können, die Regeln des eigenen Zusammenlebens nicht wirklich allein bestimmen zu können, mittlerweile internalisiert haben. Wenn ich Freunden im Westjordanland vorschlage, irgendwohin zu fahren, sagen sie, das gehe nicht, das dürften sie nicht. Wenn ich sage, lass es uns probieren, stellen sie fest, dass es doch geht, mal legaler, mal illegaler.

Die Leute machen sich die auferlegte Beschränkung zu eigen?

Ja, und da ist es interessant zu beobachten, was in Gaza jetzt mithilfe der sozialen Netzwerke im Internet passiert. Nicht, dass man sich damit morgen zur Revolution verabredet, aber es beginnt überhaupt so ein Prozess, wo Menschen eine eigene Sprache entwickeln, eine eigene, verloren geglaubte Subjektivität entdecken. Auf Facebook sagen sie wieder „Ich“ und „Ich will“. Das mag uns wenig erscheinen, ist aber existenziell dort.

Als Auslandsreporterin fahren Sie oft an Orte und begeben sich in gefährliche Situation, wo schnell gelebt werden muss.

Ich würde sagen, es sind Orte, an denen es eine viel höhere Bedeutung hat, was ich mit meinem Leben mache. Schnelllebig klingt, als sei es gleichgültig oder das Leben wenig wert. Mein Blick ist nicht auf das Risiko gerichtet, das wird auch oft überschätzt. Mein Fokus liegt auf Zivilisten. Das Riskante ist nicht, dass man sich militärischer Gefahr, sondern dass man sich moralischer Verstörung aussetzt. Und dass man eben auch diese Unschuld des Nichtwissens verliert. Ich sehe das Leid von anderen und trage das Wissen darum mit mir, ohne es ändern zu können. Ich kann mir nur auferlegen, es so genau wie möglich zu bezeugen, zu beschreiben.

Verstörung sagten Sie, nicht Zerstörung?

Damit meine ich, dass es ein Maß an Zerstörung, Ungerechtigkeit und sozialen, moralischen, politischen Verwerfungen gibt, die man nicht verstehen will, nicht verstehen kann. Darüber wird viel zu wenig gesprochen.

Worüber wird gesprochen?

Über Opferzahlen, über Militär, über Tod, über all das, was sich schnell in Fakten auflisten lässt.

Sie wollen aber benennen, was in Kriegs- und Krisengebieten mit den Menschen passiert.

Das ist die Herausforderung. Die ganze Arbeit eines Autors besteht darin, etwas so zu beschreiben, dass es sich andere, die es nicht erlebt haben, vorstellen können. Ich will, dass die Texte, die ich schreibe, eine Erfahrung übersetzen, damit sie vorstellbar wird. Aber es stimmt auch, dass es eine Form des Nichtverstehens gibt: Man will bestimmte Arten von Brutalität, Gewalt und Unrecht nicht verstehen, weil man nicht in einer Welt leben möchte, in der sie geschehen.

Wirklichkeit und Abbildung sind also nicht deckungsgleich.

Das ist jetzt ein philosophisches, kein moralische Problem. Natürlich kann ich nur einen kleinen Ausschnitt dessen aufschreiben, was ich erlebt habe. Aber darunter leide ich nicht so. Ich leide eher an der unbeantworteten Frage: Ist es präzis und schonungslos genug beschrieben?

Weil sich der Schrecken abnutzt?

Nicht bei mir. Aber ich frage mich, mildert mein Text die Wirklichkeit ab? Oder ist er auch ein Stück weit eine Zumutung. Damit die, die so etwas in sicheren Gegenden lesen dürfen, genötigt werden, sich in dieser Unschuld des Nichtwissens nicht zu bequem einzurichten.

Man liest es, und dann?

Dieses „und dann“ müssen die, die es lesen, eben aushalten.

Und Ihr „und dann“?

Ich fahre immer wieder hin, weil da Menschen leben, deren existenzielle Grunderfahrung die ist, dass sie als Person, als Individuen negiert werden. Wenn ich ihre Geschichten aufschreibe, bemühe ich mich, ihnen wieder eine Art von Sichtbarkeit, von Hörbarkeit zu geben. Und ich betrachte es sogar als eine Art subversive Strategie, eine Form von Genauigkeit in der Sprache zu finden.

Subversiv inwiefern?

Das, was Kriegen vorausgeht, sind Strategien des Denunzierens und Unsichtbarmachens bestimmter Gruppierungen, der Exklusion von ganzen Bevölkerungsgruppen. In dem Sinne sind meine Texte von dem Gedanken geleitet, dass sie eine sprachliche Antwort auf das sind, was vorher eben auch Sprachpolitiken oder Ideologien waren, die dann langsam eine soziale Wirklichkeit gestalteten.

Und deshalb müssen Sie immer wieder dahin fahren?

Der Krieg hört ja nicht auf, wenn wir wegschauen.

Suchen Sie manchmal das Schlimme auf Ihren Reisen und erkennen dabei dann aber das Schöne?

Beides muss man nicht suchen. Über die Erfahrung in solchen Ländern sind die Demut gewachsen und die Dankbarkeit für das, was es hier bei uns gibt. Die erste Tasse Tee am Morgen – das ist toll. Meine Wohnung – das ist toll. Ein Rundfunksymphonieorchester – das ist wunderbar. Es ist nicht so, dass die Fähigkeit, mich an Dingen zu erfreuen, nachgelassen hätte.

Wir haben über Sie als Suchende geredet. Sind Sie auch eine Findende?

Absolut. Ich sammle nicht nur Geschichten. Auch Dinge.

Es gibt einen schönen Text, in dem steht, dass Sie nach dem Tod Ihrer Mutter vor allem eines wollten: ihre Kommode.

Ja, die habe ich auch.

Was ist das Besondere daran?

Diese eine oberste Schublade, in der so Krimskrams war, Kordeln und Tesafilm und Geschenkpapier. Das Schönste war, dass sie unaufgeräumt war.

Und was ist jetzt drin?

Das verrate ich nicht. Es ist auch unwichtig. Wenn ich die Schublade heute öffne, ist immer noch das drin, was damals drin war.

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