Angeklagter stirbt in seiner Zelle

INDIEN Behörden sprechen von Suizid eines Angeklagten im Prozess um Vergewaltigung. Seine Angehörigen und sein Anwalt widersprechen

„Bei einem Suzid hätte er ein Schreiben hinterlassen“

V. K. ANAND, ANWALT DES ANGEKLAGTEN

AUS DELHI GEORG BLUME

Einer der Hauptangeklagten im Prozess um die Vergewaltigung einer Medizinstudentin in Delhi ist am Montagmorgen tot in seiner Zelle gefunden worden. Der Vergewaltigungsfall hatte zu landesweiten Protesten und internationalem Aufsehen geführt. Der 33-jährige Busfahrer Ram Singh war des Mordes beschuldigt, wofür ihm die Todesstrafe drohte. Singh wurde vorgeworfen, am 16. Dezember 2012 mit vier anderen Männern und einem Jugendlichen die 23-jährige Studentin in seinen Bus gelockt, mehrfach vergewaltigt und mit einer Eisenstange in der Vagina schwer misshandelt zu haben. Die Studentin starb zwei Wochen später an ihren Verletzungen.

Singh soll sich laut den indischen Gefängnisbehörden mit einem Kleidungsstück erhängt haben. Demnach entdeckte ein Wächter, der ihn um fünf Uhr morgens für einen Verhandlungstermin vor Gericht abholen kam, den Toten. Weder seine weiteren Zelleninsassen noch das reguläre Aufsichtspersonal sollen den angeblichen Suizid vorher bemerkt haben. Dabei galt Singh offiziell als selbstmordgefährdet und stand deshalb unter besonderer Überwachung. Noch am Morgen ordnete Innenminister Sushilkumar Shinde eine Untersuchung der Todesumstände an. Offenbar gab es keine Kameraüberwachung in der Zelle, obwohl sich Singh in einem sogenannten Hochsicherheitstrakt befand.

Angehörige und der Anwalt des Angeklagten schlossen einen Selbstmord aus. Singh trug seit Jahren eine Schiene in der rechten Hand und konnte diese nicht bewegen. „Er hätte sich mit einer Hand nie das Leben nehmen können“, sagte der Vater Mange Mal Singh. Die Familie lebt in einem Slum im Süden Delhis. Die Mutter Kalyani Devi berichtete, ihr Sohn habe über Folter in der Haft geklagt und ihr Schlag- und Schürfwunden gezeigt. Auch Singhs Anwalt V. K. Anand behauptete, sein Mandant sei häufig in der Haft gefoltert worden. „Ich hatte mit ihm zuletzt täglich zu tun. Wenn er Selbstmord verübt hätte, hätte er ein Schreiben hinterlassen“, bezweifelte Anand die Suizidthese der Behörden. Er und die Anwälte der drei anderen Angeklagten fordern eine Verlegung des Prozesses an einen Ort außerhalb Delhis. Das dortige Tihar-Gefängnis, wo die Angeklagten einsäßen, sei für diese kein sicherer Ort mehr. Aus Protest nahmen die Anwälte am Montag nicht am Verhandlungstermin vor Gericht teil. Der Prozess findet seit Ende Januar vor einem Schnellgericht unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Unabhängige Beobachter wie Delhis ehemalige Polizeichefin Kiran Bedi mahnten im Fall Singh, den Autopsiebericht abzuwarten. Enttäuscht reagierte der Bruder des Vergewaltigungsopfers: „Ich wollte, dass Singh öffentlich gehängt wird“, sagte der 20-Jährige. Auch Frauenorganisationen waren entsetzt: „Die Justiz hätte ihren Weg gehen und ein gerechtes Urteil sprechen müssen. Jetzt wird es schwer, mit dem Prozess ein Exempel zu statuieren“, sagte Kavita Krishnan von der All India Progressive Women’s Association.

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