Die Wahrheit: Onkel Sepp und seine...

...Wohngemeinschaft. Ich lernte ihn in den frühen Neunzigern kennen.

Ich lernte ihn in den frühen Neunzigern kennen. Ich bewarb mich in der Kaiser-Wilhelm-WG, idyllisch an der achtspurigen innerstädtischen Tangente gelegen. Man konnte das alte Backsteingemäuer, das zwei Weltkriege überstanden hatte, nicht verfehlen.

Es war eingekeilt zwischen dem Metallgroßhändler „Eisenvater“, „Conni’s Hähnchenkneipe“, in der der legendäre Eintracht-Braunschweig-Wundertrainer Branko Zebec einst die Abseitsfalle einführte, und dem geschichtsträchtigen Rudolfsplatz, wo Heinz Rühmann mit seinem Führermercedes einmal getankt hatte, 1937 oder 1957.

Hier also traf ich zum Vorstellungsgespräch Onkel Sepp. Ganz in Jägergrün gewandt, hatte er sich Pommes mit Jägersoße vom „Bier- und Wurstkontor“ gegenüber besorgt und ereiferte sich mit rot leuchtender Halbglatze über den Wohlstand des Lokalisierungsgewinners Ahmed, sichtbar auf die Straße gebracht durch eine Einheitskanzler-S-Klasse, und darüber, dass eben diese Wuchtbrumme ja wohl allein durch seine, Onkel Sepps, „Fresserei“ finanziert worden sei, wohingegen er mit einem Damenrad durch die Stadt eiern müsse – und an diesem unfassbaren Missverhältnis würde eines Tages die deutsche Wirtschaft zugrunde gehen. Das war mein Mann. „Wäre denn noch Platz in der Küche für meine Mikrowelle?“, fragte ich schlau.

Eine schöne Zeit begann. Onkel Sepp war jähzornig, großzügig, ein reaktionärer Anarchist vor dem Herrn. Die Antipode dazu bildete der kurzhosige Sven-Uwe, Bier- und Putzplanbevollmächtigter unserer Wohneinheit. Sven-Uwe kam aus einem sehr niedersächsischen Dorf, gesegnet mit immerhin zwei Bordellen: eines zum „Quatschen“ und eines, um „zu vergessen“.

Sven-Uwes ewiger Plan klärte über sämtliche Bier- und Putzpflichten auf. So wusste ich, dass ich am Freitag, den 12. 6. 2712, mit dem Nassbereich „dran“ wäre, es sei denn, ich hätte bis zum 11. 6. 2712 mindestens 15 Mark Wochenpfand erlöst, bezogen auf den Preisindex von 1993 des Statistischen Bundesamtes.

Neben uns wohnte eine Biologen-WG, die eindrucksvoll die achtziger Jahre mit Latzhosen, Bots-Platten und ungesüßtem Kuchen perpetuierte. Sepp war hochgradig fasziniert und scharwenzelte um die höhere Professorentochter herum. Das reizte seinen Spieltrieb. Aber er blieb immer korrekt dabei, denn merke: „Der Fuchs wildert nicht im eigenen Revier.“

Onkel Sepp stemmte und strombergte seinen westfälischen Dickschädel mit eisernem Trotz gegen alle postmodernen oder bunten Anforderungen der Mehrheitsgesellschaft. Er beharrte darauf, sich nicht „anzubiedern“. Wenn ihn das liberale Bürgertum nicht hereinlassen wollte, gut so. Lieber ins Dreckloch ziehen als sich „verbiegen“.

Nach einem Jahr war es vorbei mit der Kaiser-Wilhelm-WG – musikalische Differenzen! Onkel Sepp hatte sich niemals dem Putzplan gebeugt. Er heiratete Jahre später heimlich und bekam, ausgerechnet, zwei Töchter. Ich gratulierte ihm mit einem ehrlichen Handschlag und vergaß ihn – bis heute. Sonntag war Kaiser Wilhelms Geburtstag.

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