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: Auf dem Trottoir vor der Raumerstraße 21

Dicht gedrängt stehen fast hundert Leute auf dem Bürgersteig vor dem Hauseingang der Raumerstraße 21 in Prenzlauer Berg. Die meisten von ihnen sind in dunkle Winterkleidung gehüllt. Die wattierten Anoraks, die Mäntel aus wärmendem Tuch sind geschlossen, die Mützen sitzen tief in der Stirn.

In der Mitte der Menschentraube steht eine kleine Frau mit kurzen graublonden Haaren. Sie hält ein verblichenes Foto in die Höhe. Drauf ist ein Paar: Malcha und Nathan Gutmann. Sie erzählt von den beiden, die sie ein Leben lang suchte. Es sind ihre Eltern. Mehr als 60 Jahre lang ist sie auf deren Spur. Seit diesem Sonntagmorgen gäbe es endlich einen Fluchtpunkt, einen Ort, an dem sie mit ihnen zusammengeführt werde. Es sei wie ein Augenblick, in dem Geburt, Begehren und Tod verschmelzen. Aber auch Alltag, deutsche Geschichte und Erinnerung verdichteten sich. Denn die Raumerstraße 21 ist ein Haus, das den Krieg – scheinbar unbeschadet – überstanden hat.

Von 1930 bis 1935 lebten die Gutmanns mit ihren beiden Töchtern dort, bevor sie nach Frankreich flüchteten. Im Nachbarland war die Familie jedoch nicht gerettet. Nachdem die Deutschen Frankreich besetzten, wurden auch von dort Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager im Osten deportiert, darunter Malcha und Nathan Gutmann. Sie starben in Auschwitz. Ihre Töchter überlebten schließlich in der Schweiz. Die Frau, die das Bild hoch hält, Sylvia Ruth Gutmann, ist die jüngste. Sie wurde 1939 geboren, nicht in Berlin, sondern in der Emigration.

Auf der Suche nach ihren Eltern, die die amerikanische Staatsbürgerin Sylvia Ruth Gutmann vor drei Jahren sogar bewog, nach Berlin zu ziehen, wurde die Raumerstraße 21 zum Wallfahrtsort der Suchenden. Wenn sie dort im Treppenhaus säße, käme sie den verlorenen Eltern am nächsten.

Deshalb hat sie mit Hilfe vieler Leute zwei Stolpersteine vor dem Eingang verlegt, die an diesem Sonntag eingeweiht wurden. Diese Steine sind ein Projekt des Künstlers Günter Demnig; fast 1.000 von ihnen gibt es inzwischen auf Berliner Bürgersteigen. Auf den pflastersteingroßen Messingplatten stehen Name, Geburts-, Flucht- und Todesdaten der Eltern. Sie seien Grab und Grabstein in einem, meint Sylvia Ruth Gutmann.

Dann lädt sie die Anwesenden ein, etwas zu sagen. „Wir werden die Stolpersteine wie unseren eigenen Augapfel hüten“, sagt ein Mann. „Ich bin froh, dass ich dich kennen lernen durfte“, sagt eine Frau. Andere stimmen ein. „Wir wollen Verantwortung übernehmen für die Geschichte“, meint jemand.

Mitten im Gedenken wird das Fenster im zweiten Stock des Hauses aufgerissen und eine Frau, deren rötlich-blonde Dauerwelle den grauen Sonntagmorgen überstrahlt, schreit mit deftiger Stimme: „Was ist denn da unten los?“ Nach einem Moment der Irritation, der die andächtige Stimmung in eine ratlose wandelt, meint jemand: „Kommen Sie runter.“ „Kann nicht, bin behindert“, donnert die Frau aus dem Fenster, „aber was ist denn los?“

Wieder dauert es, bis jemand Worte findet: „Stolpersteine werden eingeweiht“, antwortet endlich ein Mann. Die Frau reagiert prompt: „Stolpern kann ick alleene“, wehrt sie ab. Da lachen einige in der Menge kurz auf. Auf die neuerliche Frage der Frau: „Aber was ist denn da los?“, antwortet niemand mehr.

Kurz danach stimmt eine Kantorin das Kaddisch, das jüdische Totengebet, an. Für einen Augenblick führt der helle, hohe Gesang weg vom Alltag, vom Lärm und vom Hier und Jetzt dieser Straße. WALTRAUD SCHWAB