Debatte Hawkings Israelboykott: Ein Fall von Heuchelei

Dass viele britische Wissenschaftler zu einem akademischen Boykott Israels aufrufen, ist intellektuell unhaltbar. Ein offener Brief an Stephen Hawking.

Kritik sollte nicht auf schrillem Moralismus und simplem Schwarz-Weiß-Denken basieren. Bild: reuters

Lieber Professor Hawking, es gibt viele Gründe, warum sie als einer der führenden Wissenschaftler der Welt gelten. Wie Sie wissen, ist einer der Gründe für Ihre großen Leistungen, dass Sie einen unabhängigen Geist behalten haben und sich weigern, dem Druck des Mainstreams nachzugeben. Neue Wege kann man nur gehen, wenn man sich solchem Druck gegenüber immun zeigt.

Aufgrund meines Respekts vor Ihren Leistungen bin ich überrascht und betrübt über Ihre Entscheidung, Ihre Teilnahme an der diesjährigen Presidential Conference in Jerusalem abzusagen; dass sie sich denen angeschlossen haben, die zu einem akademischen Boykott Israels aufrufen.

Ich hätte erwartet, dass ein Mann Ihres Ansehens sich nicht von dem Druck beeinflussen lassen würde, der Berichten zufolge auf Sie ausgeübt wurde, Ihren Besuch in Israel abzusagen.

ist Professor in Tel Aviv und Kolumnist der Zeitung Ha'aretz. Die Presidential Conference findet seit 2008 auf Initiative des israelischen Präsidenten statt. 2013 sollen unter anderem Michael Walzer, Bill Clinton und Hubert Burda sprechen.

Ich trete seit Langem gegen die israelische Besatzung der Palästinensergebiete ein und habe diese Opposition mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zum Ausdruck gebracht. Ich bin der Ansicht, dass die israelische Siedlungspolitik moralisch nicht legitimiert werden kann, politisch dumm ist und strategisch unklug.

Doppelte Standards

Dennoch halte ich es für moralisch verwerflich und intellektuell unhaltbar, dass viele britische Wissenschaftler zu einem akademischen Boykott Israels aufrufen. Ein solcher Aufruf basiert auf doppelten moralischen Standards, die ich nicht von einer Gruppe erwartet hätte, deren Auftrag es ist, intellektuelle Integrität zu unterstützen.

Ja, Israel begeht Menschenrechtsverletzungen in der Westbank. Aber diese sind unbedeutend im Vergleich zu denen, die von einer Reihe anderer Staaten begangen werden, angefangen mit dem Iran über Russland bis China, um nur einige zu nennen.

Iran hängt Homosexuelle; China hält Tibet besetzt, und Russland hat in Tschetschenien schreckliche Zerstörungen angerichtet. Ich habe weder von Ihnen noch Ihren Kollegen, die einen akademischen Boykott gegen Israel unterstützen, gehört, dass sie irgendeines dieser Länder boykottieren.

Lassen Sie mich einen Schritt weiter gehen: Israel wird angeklagt, Palästinenser über Jahre ohne Gerichtsverfahren festzuhalten. Ebenso die USA, die bis heute Guantánamo nicht geschlossen haben. Israel wird der gezielten Tötungen von Palästinensern beschuldigt, die verdächtigt werden, an Anschlägen beteiligt zu sein. Auch die USA praktizieren in vielen Ländern gezielte Tötungen von Verdächtigen.

Die Frage, ob diese Internierungen und gezielten Tötungen gerechtfertigt werden können, ist von erheblichem Gewicht, und es gibt keine einfachen Antworten. Ich persönlich denke, dass Demokratien auch in einem Krieg gegen den Terror jeden erdenklichen Versuch unternehmen müssen, die Gesetze einzuhalten und Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden.

Die Traumata des Terrors

Lassen Sie uns dennoch nicht vergessen, dass sich sowohl Israel als auch die Vereinigten Staaten in schwierigen Situationen befinden. Israel stand an der Schwelle zu einem Friedensabkommen mit den Palästinensern, als die Zweite Intifada ausbrach.

Täglich wurden Israelis von Selbstmordattentätern in Stücke gerissen; seitdem ist es für israelische Politiker schwierig, ihre Wähler zu überzeugen, Risiken für den Frieden einzugehen. Die USA leiden noch immer unter dem Trauma des 11. September. Seitdem haben sie zwei Staaten, Afghanistan und den Irak, besetzt. Ich denke, dass es ebenso falsch war, den Irak anzugreifen, wie ich die israelische Siedlungspolitik in der Westbank für falsch halte.

Professor Hawking: Wie können Sie und Ihre Kollegen, die für einen Boykott eintreten, ihren doppelten Standard rechtfertigen (der eine Folge davon ist, Israel als besonderen Fall darzustellen)? Sie bestreiten einfach, dass Israel die längste Zeit seiner Existenz unter existenziellen Bedrohungen gestanden hat.

Bis heute ruft die Hamas, eine der beiden großen Parteien in Palästina, zur Zerstörung Israels auf. Bis heute vergeht kaum eine Woche, in der nicht der Iran und dessen libanesischer Verbündeter, die Hisbollah, damit drohen, Israel auszulöschen.

Sich Israel für einen akademischen Boykott herauszugreifen, ist, wie ich glaube, ein Fall schwerer Heuchelei. Es ist eine Gelegenheit, seine Empörung über die Ungerechtigkeiten der Welt dort loszuwerden, wo die dafür zu zahlenden Kosten gering sind. Ich warte immer noch auf einen britischen Wissenschaftler, der nicht mit amerikanischen Institutionen kooperieren will, solange Guantánamo in Betrieb ist oder solange die USA gezielte Tötungen durchführen.

Das einfachste Ziel

Hinzu kommt: Sich Israels akademische Kreise für einen Boykott herauszugreifen, ist auch unklug, um es vorsichtig auszudrücken. Israels Wissenschaftler sind weitgehend linksliberal, viele haben sich seit Jahrzehnten gegen die Siedlungspolitik ausgesprochen. Einmal mehr haben sich die britischen Wissenschaftler daher das einfachste Ziel ausgesucht.

Israel kann ebenso wie jedes andere Land kritisiert werden. Aber solche Kritik sollte nicht auf schrillem Moralismus und simplem Schwarz-Weiß-Denken basieren. Die Welt ist leider ein chaotischer, schwieriger Ort. Ian McEwan soll Folgendes geantwortet haben, als er dafür kritisiert wurde, 2010 nach Israel zur Verleihung des Jerusalemer Literaturpreises gefahren zu sein: „Wenn ich nur in Länder fahren würde, mit deren Politik ich übereinstimme, dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr das Bett verlassen. Es ist nicht gut, wenn man aufhört, miteinander zu reden.“

Da ist sicherlich etwas dran. Den Standards der Menschenrechte und den Idealen der Demokratie in einer unvollkommenen Welt gerecht zu werden, ist schwierig. Autoren wie Philip Bobbitt und Michael Ignatieff haben lange darüber nachgedacht, wie man Menschenrechte in einer Welt des Terrorismus bewahren kann.

Professor Hawking, von einem Mann Ihres intellektuellen Formats erwarte ich eigentlich, sich mit diesen schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. Der einfache Weg, Israel für einen Boykott herauszugreifen, steht Ihnen weder intellektuell noch moralisch gut an.

Mit freundlichen Grüßen

Carlo Strenger.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.