Auf der Insel: Keine Angst vor der Einsamkeit

23 Winter lang haben Hermann und Gudrun Matthiesen auf der Hallig Süderoog im Nationalpark Wattenmeer verbracht. Jetzt übernehmen ihre Nachfolger.

Die nächsten Nachbarn sind sechs Kilometer entfernt: Hallig Süderoog. Bild: dpa

An dem Tag, an dem Gudrun und Hermann Matthiesen ihr neues Heim bezogen, stand die Nordsee grau und schwer auf den Wiesen, die das Paar bewirtschaften wollte. Als Matthiesens schließlich ihre Sachen durch das knietiefe Wasser geschleppt hatten und abends die Fleischvorräte für Wochen aufbraten mussten, weil ihre mitgebrachte Kühlbox geborsten war, wären sie am liebsten gleich wieder weg. Inzwischen leben Matthiesens seit 22 Jahren auf Hallig Süderoog – ohne Strom, ohne Fernsehen, ohne Kühlschrank, mit Paraffinlampen. Die nächsten Nachbarn wohnen auf der sechs Kilometer entfernten Insel Pellworm. Nun geht Hermann Matthiesen in Rente, im Herbst wird er mit seiner Frau das reetgedeckte Haus verlassen. Ihre Nachfolger sind bereits eingezogen – einen Sommer lang leben also vier Menschen auf den rund 60 Hektar großen Hallig im Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.

Für Nele Wree und Holger Spreer scheint die Sonne, als sie mit ihren Umzugskartons an der Kaimauer auf Pellworm stehen. Es ist einer dieser seidigen Tage, an denen sich die Nordsee wie die große Schwester des Mittelmeers gibt – blaues Wasser verschwimmt am Horizont mit blauem Himmel. Das Meer gleitet unter dem Metallrumpf der „Oland“ weg, das die beiden neuen Pächter auf die Hallig bringt. Die „Oland“ gehört zum Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz (LKN), bei der Wree und Spreer angestellt sind. Sie werden ihre Arbeit zwischen Naturschutz für den Nationalpark und der Instandhaltung für den Küstenschutz aufteilen. Auf den den anderen Halligen im Nationalpark lebt nur im Sommer ein Vogelwart, nur auf Süderoog bleiben die Bewohner auch im Winter und schützen Hallig und Haus vor den Stürmen und der Nordsee.

„Auf der Hallig zählen nur die Winter“, sagt Gudrun Matthiesen. Sie trägt ein weißes Kleid und offene Sandalen, bringt Kaffeetassen auf den Hof und ermahnt die beiden Hunde zur Ruhe. Im Stall blöken die Lämmer, auf den Wiesen hinterm Haus picken Gänse im Gras und von ihren Nestern an der steinernen Halligkante sind die Warnrufe von Lachmöwen und Austernfischern zu hören. An diesem Tag würde wohl jeder mit Matthiesens oder ihren Nachfolgern tauschen. „Mein Lieblingsplatz? Überall, wo grade kein Wind weht“, sagt Gudrun Matthiesen.

Sie ist 51 Jahre alt, und hat 23 Winter auf der Hallig gelebt. Als sie herzog, war sie 28. Eine Bekannte berichtete ihr damals von der freien Pächter-Stelle auf Süderoog. Gudrun Matthiesen konnte sich das Leben auf der Hallig vorstellen, ihr Mann fragte, ob sie das ernst meinte. Nach einer Weile stellten beide fest: Ja. 300 Bewerbungen gab es damals – angefeuert durch einen Bericht in der Bild-Zeitung. Die Matthiesens kommen von Pellworm und dorthin geht es nun zurück: Ab Herbst will Hermann Matthiesen wieder Krabben fischen, seine Frau wird sich um die Ferienwohnungen und die Landwirtschaft kümmern.

Ihre Nachfolger nehmen den umgekehrten Weg: Holger Spreer lebt seit sechs Jahren auf Pellworm. Geboren wurde der 33-Jährige in Frankfurt an der Oder, mit 16 Jahren zog es ihn an die Küste, er lernte die Fischerei und machte sein Kapitänspatent. Nele Wree stammt zwar aus Kaltenkirchen, verbrachte aber alle Sommerferien auf Pellworm. Die 30-Jährige studierte Kunstgeschichte, jobbte in einem Café in Jerusalem und lebte zuletzt in Hamburg. Die beiden kennen sich seit zehn Jahren, ein Paar sind sie seit einem Jahr. Dass sie sich um den Job auf der Hallig bewarben, liegt auch an Hermann Matthiesen: Der sprach den jungen Fischer an. Tags darauf wanderten Spreer und Wree übers Watt zur Hallig, kurz darauf reichten sie ihre Bewerbung ein.

„Es passte“, sagt Hans-Dieter Schultz, der beim LKN für Deichunterhaltung und die Befestigungen der Halligen zuständig und damit Dienstherr des Paares ist. Aus 30 Bewerbungen konnte die LKN auswählen, Kriterien waren Kenntnisse in Schifffahrt, handwerkliche Fähigkeiten und die Bereitschaft, alles Übrige zu lernen. Das Pächter-Paar auf der Hallig muss viele Aufgaben bewältigen: Vögel zählen – 2.000 Ringelgänse, 1.000 Möwen, insgesamt 25 Arten – Treibgut auswerten, die Wattwanderer bewirten, die bei passender Tide von Pellworm herüberkommen. Außerdem müssen sie sich um die eigenen Schafe und Rinder kümmern. Viel harte Arbeit, vor allem weil Matthiesens kaum Maschinen betreiben. Es gibt noch immer keinen Strom auf der Hallig, nur den Dieselgenerator. Den schmeißt Matthiesen aber nur in Ausnahmefällen an, das Knattern und die blauen Abgaswolken passen nicht zur Hallig.

Hermann Matthiesen sitzt draußen in der Sonne. Mit seinem gebräunten Gesicht und den breiten Schultern unter dem karierten Hemd wirkt er jünger als 65 Jahre, aber genau wie seine Frau stellt er fest: „Wir schaffen die Arbeit nicht mehr.“ Leute von außerhalb scheinen das angesichts von Lämmeridylle und piepsenden Vögeln nicht zu begreifen, aber Matthiesens kennen auch die anderen Tage auf der Hallig: Wenn das Wasser bis an die Fenster steht, wenn die Schafe bei Sturm eilig unter Dach getrieben werden müssen. Drei Lämmer sind ihnen ertrunken in den 22 Jahren, einmal stürzte eines der Pferde in den Priel. Das haben sie gerettet. So groß das Haus mit seinen Dielenböden und den holländischen Kacheln in der guten Stube ist: Das Hallig-Paar lebt fast nur in der Küche, weil dort der Ofen steht. Wenn im Winter das Meer rau wird und Eis führt, bleibt Matthiesens Boot, die „Robbe“, am Anleger vertäut, dann müssen die Vorräte reichen. Und die Nerven halten.

Angst vor Langeweile haben die Neuen nicht. „Fernsehen schaue ich seit Jahren nicht mehr“, sagt Holger Sprer, und Nele Wree fügt hinzu: „Man arbeitet den ganzen Tag, da sitzt man abends nur in der Küche.“ Ihre fußbetriebene Nähmaschine ist mit – und ein paar Bücher: „Biogarten für Einsteiger“, „Das Selbstversorgerbuch“. Sie wollen die ökologische Landwirtschaft der Matthiesens fortführen. Und Internet wäre gut, Spreer und Wree wollen eine Homepage einrichten. Mit Leitungen wird das aber nichts, aber Spreer hofft, irgendwie eine Lösung zu finden.

Sie mögen sich jetzt noch nicht festlegen, wie lange sie auf der Hallig bleiben wollen. Aber dass es eine Entscheidung fürs Leben sein kann, wissen beide. Sturmfluten schrecken sie nicht, auch Unfälle ließen sich überstehen, sagt Spreer: „Da kommt der Rettungshubschrauber von der Küstenwache.“ Aber was, wenn ein Tier verletzt ist und notgeschlachtet werden muss? „Da muss man sich rantasten“, sagt Spreer. „Aber ein mulmiges Gefühl ist dabei.“

Zum Abschied erhält Hermann Matthiesen eine Urkunde des Umweltministeriums in Schleswig-Holstein. Er nimmt das Papier und sagt: „Hätten wir das also auch geschafft.“ Dann reicht er es seiner Frau weiter, die nur den Kopf schüttelt. Da sie keine Angestellte des LKN war, fehlt ihr Name auf dem Schreiben. „Darum muss Hermann ja weiter Krabben fischen und ich die Ferienwohnung putzen“, sagt sie. „Weil ich ja nur so eine Mini-Rente kriege.“ Da haben die Nachfolger vorgesorgt: Wree und Spreer teilen sich die Stelle.

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