Macht neben dem Souverän

KRISE Wolfgang Streeck warnt vor dem Triumph des Kapitalismus über die Demokratie und legt eine klarsichtige Analyse der Krisenursachen vor

VON STEFFEN VOGEL

Die Krise hält Europa fest im Griff, und ein Ende scheint nicht in Sicht. Schwere und Dauer der ökonomischen Malaise erklären sich auch aus ihrem langen Vorlauf. Denn 2008 kulminierte eine Entwicklung, die mehr als drei Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatte. Diese „Auflösung des demokratischen Kapitalismus“ untersucht der Kölner Soziologe Wolfgang Streeck, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, in einem faszinierenden neuen Buch.

„Gekaufte Zeit“ versammelt die Adorno-Vorlesungen, die Streeck 2012 in Frankfurt gehalten und für die Veröffentlichung ergänzt hat. Dem Text gereicht diese Form zum Vorteil: Jedes der drei Hauptkapitel entspricht einem Vortrag, übernimmt dessen Dramaturgie sowie die Notwendigkeit, Sachverhalte pointiert darzustellen.

Der lange Vorlauf

Streeck zufolge ist Mitte der siebziger Jahre jener Gesellschaftsvertrag obsolet geworden, der im Westen bis dato eine allgemeine Prosperität ermöglicht hatte. Dann jedoch lahmte das Wachstum, das Kapital kündigte den Nachkriegskonsens auf, und die neoliberale Revolution begann. In dieser Situation fürchteten die Regierungen der USA und Europas um die Legitimität der Wirtschaftsordnung. Sie wollten Zeit gewinnen, erreichten dabei aber nie mehr als Aufschübe. All ihre Versuche endeten in kleineren Krisen und setzten die Hürde für den nächsten Anlauf höher. Und jedes Mal verloren die Bevölkerungen weitere soziale Rechte.

Diese Entwicklung vollzog sich, so Streeck, in drei Etappen: Zunächst griffen die Regierungen zu einer inflationären Geldpolitik. Dann weiteten sie ab Mitte der achtziger Jahre die Staatsverschuldung erheblich aus und liberalisierten auch zu diesem Zweck die Finanzmärkte. In der bislang letzten Phase senkten sie ihren Schuldenstand durch Sozialabbau und erleichterten zeitgleich die private Kreditaufnahme.

Ziel dieser letztlich gescheiterten Bemühungen war die Versöhnung von Kapitalismus und Demokratie. Dieser Konflikt durfte so lange als beigelegt gelten, wie die Wirtschaftsweise einem Gesellschaftsvertrag unterworfen werden konnte. Heute dagegen droht „die Entdemokratisierung des Kapitalismus vermittels Entökonomisierung der Demokratie“, schreibt der Kölner Soziologe. Deutlich zeigt sich das in der Eurokrise. Schuldenbremsen etwa dienen der Immunisierung der Fiskalpolitik vor Wahlergebnissen und erleichtern die Zurückweisung von Forderungen aus der Bevölkerung. Sie muss zurückstecken, die Ansprüche der Gläubiger werden von den Regierungen bevorzugt bedient. Neben den verfassungsgemäßen Souverän, das Staatsvolk, tritt ein mächtigeres „Marktvolk“.

Als Krisenlösung präsentierte Maßnahmen wie der Fiskalpakt sollen den neoliberalen Kurs auf Dauer stellen. Ob dieser anvisierte Umbau Europas aufgeht, ist nicht ausgemacht. Er basiert, so Streeck, auf einer technokratischen Kontrollfantasie. Tatsächlich sind Gesellschaften viel weniger beherrschbar, als es den dominanten europäischen Politikern recht sein dürfte. Notwendig wäre allerdings eine Opposition, die weniger konstruktiv auftritt als bisher, so der Autor. Ein Bündnis der betroffenen Staaten gegen die Sparprogramme wäre möglich, als Waffe könnte die Drohung mit einseitiger Entschuldung dienen. Dabei verfällt der Soziologe weder in Resignation noch in Zweckoptimismus: In der Krise müsse keine Chance liegen, sie könne auch böse enden.

Ähnlich nüchtern betrachtet Streeck die Zukunft der EU. Eine europäische Demokratie hält er zwar für wünschenswert, zweifelt aber, ob sie sich realisieren lässt. Dafür klafften die Einzelökonomien zu weit auseinander, sodass die Angleichung der Lebensverhältnisse selbst bei einer systematischen kontinentalen Umverteilung erst nach Jahrzehnten zu erreichen sei, wenn überhaupt. Er plädiert daher für ein europäisches Bretton Woods, das den Mitgliedstaaten die Abwertung ihrer Währung erlauben würde, was den schwächeren Ländern einen Vorteil verschaffen könnte. Damit wäre allerdings der Euro in seiner heutigen Form gescheitert.

Man muss Streecks Skepsis nicht teilen, aber sie ist wohlbegründet. Seinem Buch sind viele Leser zu wünschen.

Wolfgang Streeck: „Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 271 S., 24,95 Euro