Berliner Sommerausflug 4: Im verzauberten Land

Auf dem Schöneberger Südgelände leben seltene Vögel, wuchern wilde Pflanzen, rasten Besucher. Hin und wieder duftet es nach Heu.

Verwunschene Natur: auf dem Schöneberger Südgelände. Bild: Katrin Eissing

Neu nach Berlin gekommen, kletterten wir aus Heimweh nach den Rändern der kleinen Städte voller nächtlicher Feuer über Gleise und Zäune. Wir aßen Brombeeren, sammelten Brennnesseln und knutschten Kunststudenten. Heute machen wir dasselbe, nur dass die verbotenen Gebiete jetzt offizielle Eingänge haben und die Gleise, alten Loks und besprayten Stellwerke in einem Naturschutzgebiet mit aussterbenden Heimtierrassen stehen.

Beim „Natur-Park Südgelände“ handelt es sich um ein Gebiet etwa zwischen dem Steglitzer Schuttberg „Insulaner“ und dem Schöneberger „Gasometer“ in Höhe des neuen und alten S-Bahnhofs Priesterweg. Der Verfall der von Menschen kunstvoll arrangierten Technik wird dort nur beobachtet, das Wachstum der „grünen Hölle“ dagegen geschützt und gefördert. Die Neonatur verbindet sich dabei quasi organisch mit den Resten einer Schwerindustrie, die unmerklich wegrostet und überwuchert wird.

Es war eine Bürgerinitiative, die 1980 eine Verwertung des 1889 in Betrieb genommenen und 1969 stillgelegten Güter- und Rangierbahnhofs als Immobilie verhinderte, indem sie einen Senatsbeschluss zur Rodung des Geländes mittels aufklärerischer Flugblätter, Aktionen und Rechtsmittel zu Fall brachte. Den Rest besorgten dann die Naturschützer, die keinen Spaß verstehen, wenn es um eine gefährdete Tier- oder Pflanzenart geht, von denen es auf dem „Südgelände“ laut der Beschilderung jede Menge gibt: angefangen von zarten Pflänzchen und noch zarteren Insekten über äußerst seltene Vögel bis hin zu immer mehr kleinen Säugetieren.

Inzwischen erinnert der Ort an ein verzaubertes Land, wie in dem fast schon wieder vergessenem Film „Stalker“ von Tarkowski oder in den Videoclips über die „Verbotene Zone“ von Tschernobyl. Die Gegend hat etwas verboten Feierliches.

An den Zugängen stehen Eintrittsautomaten, die die Funktion einer 1-Euro-Spendenkasse haben. Dann, zwischen Birken, Ebereschen, Ahorn- und Weißdornbäumen: Schafe, die wie Ziegen aussehen. Sie weiden auf bunten, artenreichen Wiesen, Plastikschilder weisen auf deren ewigen Wandel hin.

Wir treten über schwebende Brücken, die alten Gleisbetten folgen, gerade nicht in die Nester der Zivilisationsnachfolgevögel, empfindliche Bodenbrüter … und gelangen zu einer großen Dampflok, der ersten Drehscheibe Berlins, einem Café, einem großen Reparaturschuppen, Stellwerken und Werkstätten, einem Kiosk, an dem ein taz-Transparent hängt, und zu einem riesigen Wasserturm, auf dem ein Turmfalkenpärchen nistet.

Wir streiten uns an einem Brombeerwall, ob es sich davor um eine „Rispen-Flockenblume“ oder einen „Raublattschwingel“ handelt. Und es wird schriftlich an die Selbstverantwortung der Jugend appelliert: „Sprayt an den vorgesehen Stellen von 11 bis 16 Uhr, damit Sprayen weiterhin erlaubt werden kann. Viel Spaß!“

Parallel zur „Wilden Grünzone“, getrennt durch Zäune und S-Bahn-Gleise, gibt es noch eine „Zahme Grünzone“, die aussieht wie den dortigen Schrebergartensiedlungen gewaltsam abgerungen, um dann vom Jugendsenator „developed“ zu werden. Die sportive Schneise heißt seit 2002 Hans-Baluschek-Park und besteht laut Wikipedia „im Wesentlichen aus Wiesenflächen, einem 1,5 Kilometer langen Weg und vier gestalteten Plätzen entlang des Weges“. Wir überzeugten uns davon auf dem Rückweg vom Südgelände Südkreuz.

Während in der „Wilden Grünzone“ verantwortungsvolle junge Väter ihre munteren Babys füttern, „Bird-Watcher“ ihre Angebetete anflüstern: „Hast du eben den Zaunkönig gehört?“, und ältere Damen für den Frieden meditieren, spielt sich in der „Zahmen Grünzone“ der übliche Juvenil-Schwachsinn ab: Birkenbäumchen umknicken, Basketball, Hund anleinen, Joggen, Skateboarden, sich betrinken, laut Musik hören.

Die Zahme und die Wilde Grünzone stehen hier im selben Verhältnis zueinander wie U- zu E-Musik. Deswegen gibt es auf dem wilden Südgelände statt Bewegungsspielen zahme Sitzveranstaltungen: zum einen das Ein-Frau-Theater „Fräulein Brehms Tierleben“, in dem es nach Heu duftet. „Das weltweit einzige Theater für gefährdete Tierarten“, wie Fräulein Brehm behauptet, die nur ausgestopfte Tiere mitspielen lässt und daneben noch Symposien mit Experten veranstaltet – unter anderem über Regenwürmer und Wildbienen (von denen es 95 Arten auf dem Südgelände gibt).

Zum anderen das kleine Amphitheater der Shakespeare Company, die den Sommer über „Shakespeare in Grün“ gibt, daneben aber auch noch das Potsdamer Ensemble „Shakespeare und Partner“ mit der „Komödie der Irrungen“ zu Gast hat.

In der Reparaturhalle haben drei Amerikaner ein „White Bouncy Castle“ aufgebaut – eine Hüpfburg, groß und weiß, in der es jedoch im Gegensatz zu den gewöhnlichen U-Luftmonstern um eine „ernst gemeinte Erprobung von Choreografie im Alltag geht, in der es nur Teilnehmer, keine Zuschauer mehr gibt.“

Man sieht daran: Ganz mag man sich auch auf dem Südgelände nicht auf die bloße Neonatur als Ausflugsziel verlassen. Dabei finden dort bereits wie in jeder „Zone der Anomalie“ quasinatürliche Kulturereignisse statt – Bilokationen zum Beispiel.

Gerade als wir nämlich im Cafégarten Platz nahmen, ging der Kairo-Korrespondent der taz, Karim El-Gawhary, dort vorbei. Er beschrieb zwei älteren Herren die lange Geschichte des Schöneberger Südgeländes. Zugleich befand er sich jedoch auch in Ägypten, von wo aus er uns täglich über den Arabischen Aufstand aufklärt, und zwar äußerst fundiert.