Der Fortsetzungsroman: Kapitel 9: Ochs-am-Berg

Was bisher geschah: Leena ist mit ihrer besten Freundin im Biergarten gelandet, um ihre Suche mit Alkohol fortzusetzen. Und zwar ordentlich.

In Leenas Kopf ertönen Nancy Sinatra und Lee Hazelwood. Bild: ap/Reprise Records

Nancy Sinatra und Lee Hazelwood tanzten Foxtrott in Leenas Kopf.

My eyes grew heavy and my lips they could not speak

I tried to get up but I couldn’t find my feet

She reassured me with an unfamiliar lie

and then she gave to me …

Immerhin ersetzten sie im Refrain den Summer Wine nicht spöttisch durch „Kühles Blondes“. Oder durch Raki, Kümmelschnaps, Futschi, Aperol, Mate-Wodka.

Leena dachte an den Tod.

Die Musik in ihrem Kopf wurde vierstimmig, als sich Ville Valo und Natalia Avelon zu Nancy und Lee gesellten. Die Bassstimmen erzeugten ein unangenehmes Vibrieren in Leenas Schädelknochen, die Soprane frästen Zickzacklinien hinein. Lana Del Rey stimmte ein und zog Bono an der Hand hinter sich her auf die Tanzfläche zog. Der Lärm wurde unerträglich.

Scheiße, dachte Leena. Es gibt mindestens vierzehn verdammte Coverversionen von „Summer Wine“.

Als H. P. Baxter von Scooter auftauchte und sich ein Plätzchen an Leenas Großhirnrinde sichern wollte, sprang sie aus dem Bett, fand (wie prophezeit) ihre Füße nicht und ging ungebremst zu Boden. Es tat nicht weh. Die Dielen fühlten sich kühl an. Leena presste ihre Schläfe gegen das Holz. Nach einer Weile verstummte die Musikantenbande hinter ihrer Stirn.

An ihrem nächsten Erwachen war das enervierende Pfeifen schuld, das aus der Küche drang. DIE LUST, dachte sie wütend. War ja klar, dass die sich das nicht entgehen lässt. Na warte.

Sie schob sich auf die Füße, die dankenswerterweise wieder aufgetaucht waren, und schlurfte Richtung Küche. „Verpiss dich!“ Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht. Ein Räuspern und ein zweiter Versuch, leiser: „Lass mich wenigstens mal einen verdammten Tag in Ruhe.“

„Das klang gestern aber noch ganz anders“, antwortete Nuray und drückte noch einen Löffel Espressopulver in den Kocher. „Eher so nach: ’Lass mich bitte nicht alleine, Nuuu.‘ Bitte! Ich will nicht alleine mit DER LUST …“

Leena weigerte sich, zu glauben, dass sie es war, die Nuray da zu imitieren versuchte.

„Oh“, sagte sie dennoch. „Verstanden. Danke.“ Die Wand kam näher. Offensichtlich sah Nuray das auch – jedenfalls spürte Leena unvermittelt einen Stuhl in ihren Kniekehlen. Dankbar sank sie auf die Sitzfläche und atmete. Was keine Freude war. Ungläubig zog Leena sich eine Strähne ihres Haares unter die Nase und schnüffelte.

„Ich stinke“, konstatierte sie.

„Ja“, bestätigte Nuray. „Das ist wegen dem Kanal.“

Wegen des Kanals, sagte eine Stimme in Leenas Kopf. Das Ergebnis blieb sich gleich. Der Kanal?

„Du wolltest unbedingt schwimmen gehen. Erinnerst du dich nicht?“

Leenas Kopfschütteln setzte Bilder der vergangenen Nacht frei. Schwimmen im Kanal. Eine Touristentraube mit Kameras. Barfüßig über Autos nach Kreuzberg laufen.

Nuray stellte ihr ein großes Glas Wasser vor die Nase. „Mach dir nix draus. Alle fanden dich voll süß.“

„Voll süß“, echote Leena schwach.

„Ja“, bestätigte Nuray. „Darauf muss man aber auch erst mal kommen. Mit einem ganzen Rudel Passanten Eins-zwei-drei-vier-Ochs-am-Berg zu spielen – mitten auf der O-Straße! Nur die Autofahrer waren glaub ich nicht so begeistert.“

Eins-zwei-drei-vier-Ochs-am-Berg auf der Oranienstraße. Mit Passanten. Erinnerungen tröpfelten auf Leena ein. Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Warum hast du mich nicht davon abgehalten?“

Nuray lächelte nachsichtig. „So krampfhaft, wie du dich betrinken wolltest? ’Alles Recherche‘, hast du vor jedem Schnaps gesagt. Also beschwer dich nicht, immerhin bist du nicht im Kanal ertrunken und sicher zu Hause in deinem Bett aufgewacht.“

Leena stöhnte. „Warum hab ich das bloß gemacht?“

„Lust?“, schlug Nuray vor.

Lust? Darauf, sich mit ekelhaften Getränken zu vergiften, wildfremde Leute zu umhalsen, sich mit ausgebreiteten Armen zu drehen, bis die Welt sich mitdrehte, sich auf der Wiese am Mariannenplatz zu wälzen und Sterne anzustarren, bis sie auch hinter geschlossenen Lidern weiter brannten? Lust zu tanzen, Lust zu schwimmen, Lust zu küssen?

Lust zu küssen?

Leenas Herz übersprang einen Schlag. Nuray zerdrückte eine halbe Zitrone über einem Espresso – einem dreifachen, wie es aussah. Dann reichte sie ihr die Tasse. „Trink!“

Leena starrte auf die Vanessa-Paradis-Zahnlücke ihrer besten Freundin. Sie wartete auf den nächsten Erinnerungstropfen, aber er kam nicht. Stattdessen eine Ahnung.

„Sag mal …“ Leena holte tief Luft. „Hab ich dich etwa … geküsst?“

Nuray grinste breit. „Nicht nur mich.“

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