Tanztheater am Müggelsee: Märchen und Spekulationsblasen

Die argentinische Choreografin Constanza Macras hat ihr Stück „Forest: The Nature of Crisis“ wirklich in den Wald verlegt.

Szenenaussschnitt aus Constanza Macras' „Forest: The Nature of Crisis“. Bild: Thomas Aurin

Constanza Macras hat bisher vor allem urbane Themen beackert: In ihren Stücken tummelten sich Großstadtneurotiker, Problemkids oder Migrationsgestrandete. Doch nun hat die argentinische Choreografin einen neuen Performanceraum erschlossen: den Wald. Mit „Forest: The Nature of Crisis“ nimmt sie ihr Publikum mit auf eine irrwitzige Reise ins Reich der Mythen und Märchen. Akteure und Zuschauer begeben sich dabei gemeinsam auf einen dreistündigen Parcours durch den Müggelwald, Nadelduft in der Nase und weich federnden Boden unter den Füßen.

Während der Tross erwartungsvoll zum ersten Schauplatz marschiert, huschen schon die ersten Feen durchs Gehölz. „Geh, wilder Knochenmann und rühre mich nicht an“, röhrt eine Punklady hinter einem Baum hervor. „Der Tod und das Mädchen“ von Franz Schubert einmal anders.

Das Stück muss man sich erwandern, zwischen den Stationen warten zahlreiche Überraschungen am Wegesrand: Da räkelt sich die Prinzessin auf der Erbse auf einem Berg von Matratzen, Trolle im Camouflage-Look umkreisen die Karawane oder eine leblose Maid liegt tief unten in der Schlucht. Diese Sidekicks kitzeln die Fantasie und holen Vorstellungen vom Wald als zauberhaft verwunschenem Ort an die Oberfläche, die seit Kindertagen im Kopf verankert sind.

Die Tour durch den Müggelwald ist nicht der erste künstlerische Exkurs dieser Art. Im vergangenen Jahr hat Constanza Macras ein ähnliches Projekt in Wales auf die Beine gestellt. In „Branches: The Nature of Crisis“ begab sie sich tief in die keltische Mythologie hinein und schlug den Bogen in die Jetztzeit, indem sie aktuelle Wirtschaftskrisen in Beziehung setzte zum Wald als Projektionsfläche für zivilisatorische Sehnsüchte und Eskapismus.

Die Dinge ändern sich zauberhaft

Für die Berliner Ausgabe sprudelten nicht minder viele Inspirationsquellen: Die Epoche der Romantik etwa, die den Mythos Wald in der Kulturgeschichte festgeschrieben hat. „Der Wald ist ein Ort, an dem sich die Dinge zauberhaft verändern, wie in Grimms Märchen. In der Krise wird auch etwas komplett verändert. So bringe ich beides zusammen: Märchen und Spekulationsblasen“, so erklärt Macras ihren Ansatz.

Gewohnt schrill fallen dann auch die Interpretationen des Grimm’schen Fundus aus: Schneewittchen ist eine spanische Studentin, die den Kredit für ihre Eigentumswohnung nicht mehr abbezahlen kann und bei Ökoaktivisten im Wald landet.

Zu ihrem Namen ist sie gekommen, weil sie sich zu viel Kokain durchs Näschen zieht; die böse Stiefmutter will nicht ihre Schönheit, sondern nur ihr Geld. Bei Rapunzel taucht statt des Prinzen ein Pizzabote auf, der Schönen reißt er beim Aufstieg am Haar die Extensions aus.

Was nach Klamauk klingt, ist der für Macras typische Wille zur Zuspitzung, der Humor, Trash und Ernst so wunderbar verbindet. Die 25 Darsteller – feste Ensemblemitglieder von Dorky Park und Gastperformer – leisten dabei Immenses: Sie hasten durchs Gelände von Rolle zu Rolle, verausgaben sich bei der skurrilen Collage aus Tanz, Text und Gesang. Dabei gehört bei Weitem nicht alles ins Reich der Mythen und Sagen.

Die Geschichte von John Law

Macras hat für ihr Stück die wahre Geschichte des schottischen Bankiers John Law ausgegraben. Er führte Anfang des 18. Jahrhunderts in Frankreich das Papiergeld ein, brachte jedoch durch Aktienspekulationen das Land an den Rand eines Staatsbankrotts. Die Finanzdesperados von heute lassen grüßen. Kommentare zur aktuellen Lage schimmern auch an anderen Stellen durch. „Krise ist wie ein Katalysator für Transformationen.

Wenn jemand sein Land wegen der Krise verlässt, ist das zwangsläufig eine Riesenveränderung“, findet Macras. Da verwundert es nicht, dass es Hänsel und Gretel von Griechenland nach Deutschland verschlägt.

Die letzte Station, eine Art Karaoke-Märchenhütte, liefert mit Songs von Tokio Hotel bis Joy Division den Soundtrack für die finale Nabelschau der Krisenkinder. Ermattet lehnt ein Teil der Meute an einem Baumstumpf, einige liefern in sich versunken Soli, andere duellieren sich mit Plastikschwertern. Ob hier Märchenfiguren oder reale Zeitgenossen eine Disko grotesque tanzen, ist unklar, die Grenzen sind längst verschwommen.

Drei Stunden, die furios Märchenszenen, Kommentare zur Wirtschaftskrise und zum Ökobewusstsein verquicken, gehen zu Ende. Beim Weg aus dem Wald heraus, den man sich mit Taschenlampen leuchten muss, können eigene Fantasien sprießen. Die Dunkelheit kriecht durch die Bäume heran, der Mond leuchtet durch die Wolken, die Zeilen des Erlkönigs klingen noch im Ohr. Kopfkino, schauerlich schön!

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