Wahlkampf um die Stimmen der Armen

Wegen der Rezession lebt inzwischen jeder fünfte Israeli unter der Armutsgrenze. Daher versprechen Arbeitspartei und Scharons neue Liste in ihren Wahlprogrammen viel Geld für die sozial Schwachen. Nur der Likud hat Vertrauen eingebüßt

AUS TEL AVIV SUSANNE KNAUL

Ein junger Mann packt in einem Hinterhaus in Jaffo Pakete. Reis, Zucker, Öl, Cornflakes, Nudeln, Marmelade, Tee und Kekse, mal eine Büchse Erbsen, mal Kakao, „jedes Mal ein bisschen was anderes“, sagt er. Die Pakete sind für die ganz Armen im Land bestimmt. 1.400 sind es pro Monat – je zwei für insgesamt 700 Familien. Die in neutralen Kisten verpackten Nahrungsmittel kommen per Boten ins Haus, um den Betroffenen die Erniedrigung zu ersparen, selbst zum „Food-Distribution-Center“ („Nahrungsausgabe-Zentrum“) zu kommen und dort vielleicht von einem Freund oder Nachbarn erkannt zu werden.

„Allein in Tel Aviv leben 3.000 Menschen in einer verzweifelten Lage“, so Schalom Portowicz, der die zumeist über die Stadtverwaltung zugestellten Hilferufe bearbeitet. Vor gut 20 Jahren gründete sein Vater das aus Spenden finanzierte „Jaffa-Institut“, um vor allem die in den Slums des Tel Aviver Vorortes lebenden jungen Menschen von der Straße zu holen. Was mit Nachhilfeunterricht, Stipendien und der Ausgabe von warmen Mahlzeiten an die Schüler begann, weitete sich zu einem umfassenden Familienhilfsprogramm aus. „Manche Schüler haben angefangen, Nahrungsmittel in ihren Taschen verschwinden zu lassen, um sie für die Eltern und Geschwister mit nach Hause zu nehmen“, berichtet der Sozialarbeiter, der Anfang dreißig ist und der „seit gut zwei Jahren eine stete Verschlimmerung“ beobachtet. Mit Grauen erwartet er das neue Jahr. Ab Januar 2006 sperren die Banken die Überziehungskredite.

Grund für die allgemeine Misere, die Israels Wirtschaft ins Stocken geraten ließ, ist die Flaute im Hightech-Bereich, gepaart mit der Intifada. Und dann griff auch noch der damalige Finanzminister Benjamin Netanjahu zum Rotstift. Soziale Zuwendungen wurden gnadenlos gestrichen. Seine Opfer sind die Arbeitslosen und die Kinderreichen. In vielen Fällen waren Krankheit oder Ehescheidung der erste Schritt in die Armut.

Einem diese Woche veröffentlichten Bericht des Forschungsinstituts „Cheker“ zufolge leben heute 1,5 Millionen Israelis unter der Armutsgrenze, die für Alleinstehende bei einem Einkommen von weniger als 1.760 Schekel (etwa 300 Euro) liegt und für Verheiratete bei 2.777 Schekel (rund 480 Euro). Gut jeder fünfte Bürger ist auf Nahrungsmittelgaben angewiesen. Dabei ist längst nicht jeder Bedürftige ohne Arbeit. Portowicz glaubt, dass „dreißig Prozent der Tel Aviver, die arbeiten, nicht durch den Monat kommen“. Hohe Mieten und teure Kinderbetreuung sind die wesentlichen Kostenfaktoren.

Genau hier setzt Amir Peretz, ehemals Chef der allgemeinen Gewerkschaft Histadrut und seit neuestem Spitzenkandidat der Arbeitspartei, an. Ganz oben auf seiner Agenda steht die Erhöhung der Mindestlöhne auf zunächst eintausend Dollar, umgerechnet 4.500 Schekel. Damit wäre vielen schon geholfen. Sozialer Wohnungsbau, Steuererlasse, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und garantierte Mindestrenten gehören zu den Versprechen im Wahlkampf von „Israels letztem Sozialisten“, wie ihn manche hämisch, manche mit Hochachtung nennen.

Im Wettlauf um die Stimmen könnte Peretz mit dieser Agenda zumindest Netanjahu gegenüber Punkte machen. Gerade in den einkommensschwachen Schichten wird traditionell eher Likud gewählt – heute die Partei des gnadenlosen Finanzministers. Netanjahu gilt als der alleinige Verantwortliche für die Finanzreformen, die inzwischen erste Früchte tragen. Die Wachstumsrate lag im vergangenen Jahr bei immerhin 4,2 Prozent, das laufende verspricht noch besser zu werden. Die einfache Bevölkerung bekommt davon indes wenig zu spüren. Der Boom konzentriert sich erneut auf die Hightech-Viertel, während sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft.

Die Wahl von Peretz zum sozialistischen Spitzenkandidaten hat schon Spuren hinterlassen. Regierungschef Ariel Scharon, der mit seiner neuen Liste Kadima derzeit alle Umfragen anführt, beeilte sich mit der Ankündigung eines umfassenden Arbeitsplans zur Bekämpfung der Armut. 7,5 Milliarden Schekel (1,4 Mrd. Euro) will er in Hilfsprogramme für die sozial Schwächsten stecken. Sehr viel mehr würde die Umsetzung der Pläne von Peretz auch nicht kosten.

Der ehemalige Gewerkschaftschef scheint trotzdem glaubwürdiger zu sein. „Peretz gibt uns Hoffnung“, sagt die 36-jährige Galit A., geschiedene Mutter von drei Kindern. In der Regierungszeit von Scharon und Netanjahu hat sie 1.000 Schekel (180 Euro) an monatlicher Zuwendung des Staates eingebüßt und muss nun mit ganzen 3.100 Schekel (564 Euro) über die Runden kommen. Galit gehört zur „Kundschaft“ des Jaffa-Instituts, wo sie inzwischen stundenweise arbeitet, um Spenden zu mobilisieren. Wenn Ende März Parlamentswahlen stattfinden, dann „kriegt Peretz meine Stimme“.