IDEAL UND WIRKLICHKEIT
: Ganz anders

So stinkt also Berliner Intelligenz

In der ersten Reihe prustet die dicke Frau in ihren Kaschmirschal. Sie verschüttet einen Schluck Rotwein, als der Kabarettist Tucholskys Zeilen Richtung Publikum donnert: „Man möchte imma eene große Lange, und dann bekommt man eene kleene Dicke – C’est la vie!“ Er ist nicht zu halten. Bei jedem sexistischen Spruch, den er Tucholsky in den Mund legt, als hätte dieser nie anderes geschrieben, gackern die Zuschauer los – sein Publikum kennt er gut. „Je roter der Wein, desto prätentiöser das Dasein“, denke ich mir, während ich in meinem Sessel von Minute zu Minute tiefer sinke. Ich halte mir die Hand vors Gesicht, kurz verschwimmt das versammelte Bürgertum vor den Augen. Kopfschmerzen. In diesem Moment entscheide ich zu gehen.

Ich überquere die Straße zur S-Bahn. Mit Hilfe der Abgase verdränge ich den bestialischen Gestank der Toilette im Theater, gemischt mit dem herben Parfumgeruch alter Menschen. So stinkt also Berliner Intelligenz. Ziel: Bus, Bar, billig – die 12 Euro Eintritt eben taten weh. Wie einen Papierflieger sehe ich sie an mir vorbeischwirren, während ich es mir oben im Bus Richtung Hermannplatz bequem mache.

In der vordersten Reihe beobachte ich die mir zu Füßen liegende Straße. Neben mir nehmen zwei junge Mädchen Platz, schwarze lange Haare, dunkle Augen, dunkler Teint. Sie reden über Schule, Mitschüler und einen tollen Jungen. „Der geht in die 6. Klasse mit mir und ist ein Genie. Wirklich!“, erklärt die eine ihrer Freundin. Sie starren aus dem Fenster. „Wenn man nur will, dann kann man alles schaffen“, schwärmt das Mädchen. Ich denke an das Publikum von eben, bevor ich Tucholsky persönlich die Treppe im Bus hochlaufen seh. Er setzt sich auf einen Sitz hinter die Mädchen und legt ihnen enttäuscht die Hände auf die Schultern. Ich steige aus. „Das Leben ist gar nicht so. Es ist ganz anders“, hätte er ihnen gesagt. Ganz anders. IGOR MITCHNIK