Nachruf auf Reich-Ranicki: „Abwehr – Angriff – zack!“

Marcel Reich-Ranicki ist gestorben – und mit ihm eine Ära der Literaturkritik in Deutschland. Seinen jüdischen Humor hat er nie verloren.

So kannten wir ihn, so schätzten wir ihn: Marcel Reich-Ranicki (Standbild aus dem „Literarischen Quartett“, 1999). Bild: zdf

„Haben Sie Feinde?“, fragte Peter von Matt den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in einem Gespräch, das unter dem sprechenden Titel „Der doppelte Boden“ erschien, und die Antwort lautete: „Sehr viele. Das gehört zu meinem Beruf.“

Das war 1986, Reich-Ranicki war 66 Jahre alt und sollte noch zwei Jahre lang bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als leitender Literaturredakteur wirken. Wenig später, 1988, ging das „Literarische Quartett“ für 13 lange Jahre auf Sendung und Marcel Reich-Ranickis Bekanntheitsgrad erreichte dank des Fernsehens eine schwindelerregende Höhe. Er wurde endgültig zum beliebten Volkspädagogen der Literatur.

Doch auch mit dem „Quartett“ setzte Reich-Ranicki das Prinzip des Feindemachens fort, wobei eine jüngere Generation sich bisweilen schon gar nicht mehr echauffierte über die Urteile des „Literaturpapstes“, weil sie ohnehin anders dachte und empfand. Immer, wenn Marcel Reich-Ranicki ohne jegliche Scheu, ja geradezu methodisch offensiv dekretierte, „Ich habe mich bei der Lektüre gelangweilt“, stand fest: ein schlechtes Buch.

Unterhaltsamkeit war für ihn, der seine Zuschauer so gut unterhalten konnte, ein entscheidendes Kriterium für die Beurteilung von Literatur. Dass andere sich mit anderen Texten oder Autoren besser unterhalten fühlten, war ihm dezidiert egal. Literatur, so Reich-Ranickis Anspruch, musste ihn persönlich ansprechen, berühren, überzeugen; was er nicht verstand, was ihm nicht gefiel, wurde verdammt, aussortiert, ignoriert. Oder, wie Peter Rühmkorf zusammenfasste: „Abwehr – Angriff – zack!“

Steigt man in die Zeitungsarchive hinab, so erfährt die oder der Nachgeborene, dass die Karriere Marcel Reich-Ranickis in der Bundesrepublik, in die er 1958 aus Polen kam, von Anfang an flankiert wurde von Angriffen. Es ist schon unheimlich, wie verbissen, wie ernst gemeint, wie humorlos die Gegner Reich-Ranickis sich aus heutiger Sicht anhören.

Es ist schwer zu rekonstruieren, ob die Lager sich so hart voneinander abgrenzen mussten; fest steht, dass es sie gab – die Zeiten waren sowohl in politischen wie in ästhetischen Fragen heißer, auch konturierter als heute, wo man gelegentlich von der beklemmenden Ahnung heimgesucht wird, in ein neues Biedermeier eingetreten zu sein, in dem nur das Lob gilt. Reich-Ranicki nahm für sich – zu Recht – in Anspruch, viel gelobt zu haben, doch war der Verriss sein Element, der Verriss und die Selbstverteidigung. Nicht umsonst trägt eines seiner Bücher den Titel „Lauter Verrisse“.

Was sich Avantgarde nannte, prallte an ihm ab

Doch täusche man sich nicht: Allein war er in jenen entscheidenden Jahren seines Wirkens, als die Bundesrepublik sich als moderne Literaturnation neu definierte, keineswegs. In der „Gruppe 47“, zu der Reich-Ranicki 1958 stieß, traf er auf einflussreiche Kritiker, auf Joachim Kaiser, Hans Mayer, Walter Jens; seine eigentliche Gegenfigur als Kritiker und Feuilletonist, Fritz J. Raddatz, war damals noch jung. Raddatz kam – wie Reich-Ranicki – aus dem Osten, hatte wie er eine kommunistische Vergangenheit, war vergleichbar eloquent und hatte doch literarisch ganz andere Präferenzen.

Für Schriftsteller wie Hubert Fichte, Arno Schmidt, Peter Handke, Alexander Kluge oder Rolf-Dieter Brinkmann brauchte es unbedingt Verteidiger. Reich-Ranicki hatte für diese Autoren keinen Sinn (über Handke: „Geschwätz“; über Fichte: „das ist kein Roman“), ebenso wenig wie für den Nobelpreisträger Claude Simon oder Elfriede Jelinek, Nobelpreisträgerin des Jahres 2004, deren (exakt so gemeinten) Roman „Lust“ von 1989 er als gefühlskalt abkanzelte.

Auch theorielastiger Literatur gegenüber, etwa Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, zeigte er sich nicht sehr aufgeschlossen. Alles, was sich Avantgarde nannte oder vermeintlich unsinnlich auf ihn wirkte, prallte an Reich-Ranicki geradezu lüstern ab. In Zuspitzung und Abwehr war er ein Meister, immer bereit, sich um der Pointe willen dümmer zu stellen, als er war.

Wie oft ist ihm vorgeworfen worden, seine Bewertungskategorien, etwa der „psychologische Realismus“, entstammten dem 19. Jahrhundert. Man hat ihm allerdings auch vorgeworfen, dieser sei eine Fortsetzung des „sozialistischen Realismus“ des Georg Lukács, den der junge Reich-Ranicki verehrt hatte. Doch das alles trifft es nicht. Reich-Ranicki war als Redakteur der konservativen FAZ ausgesprochen liberal; in der „Frankfurter Anthologie“, die er 1974 ins Leben rief und bis zuletzt redigierte, kamen als links verschriene Autoren zu Wort, Erich Fried zum Beispiel.

Der wissbegierige Marcel Reich

Nein, den Zeitströmungen verschloss sich Reich-Ranicki wirklich nicht. Seine prägenden literarischen Einflüsse gehen jedoch auf die dreißiger Jahre zurück, als er in Berlin das Gymnasium besuchte und im Theater Gustaf Gründgens bewunderte. Er las so viel wie später nie mehr: Schiller, Shakespeare, Büchner, Kleist, Tolstoi, Dostojewski, Hamsun, Stendhal und Flaubert.

Für den wissbegierigen Marcel Reich, wie sein Geburtsname lautete, war es eine anregende Zeit, trotz des heiklen Klimas. Die meisten seiner Klassenkameraden gehörten der Hitler-Jugend an; sein Musiklehrer, der die jüdischen Schüler ihrer Musikalität wegen besonders förderte, war ein Nazi. Und so verwundert es kaum, wenn der knapp 80-Jährige in seiner über eine Million mal verkauften Autobiografie „Mein Leben“ resümierte: „In welcher Schule ich auch war, in welcher Institution ich auch gearbeitet habe, ich passte nie ganz zu meiner Umgebung.“

Martin Walser (l.) und Marcel Reich-Ranicki (Archivbild 1996). Bild: dpa

An diesem Fremdheitsgefühl konnten etliche Ehrendoktorwürden und unzählige Preise und Auszeichnungen, bis hin zum Bundesverdienstkreuz, nichts ändern. Gekränkt hat er immer wieder vermerkt, dass die erste Ehrendoktorwürde ihm nicht von einer deutschen Universität, sondern einer schwedischen verliehen worden sei.

„Was sind Sie denn nun eigentlich? Ein Pole, ein Deutscher oder wie?“, soll Günter Grass während einer Tagung der „Gruppe 47“ gefragt haben. Geboren am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel, verlebte Marcel Reich die ersten neun Jahre in Polen; die Mutter, die nur gebrochen Polnisch sprach, schickte ihn auf die deutschsprachige Schule.

Reich-Ranicki litt unter seinem Vater

Nach dem wirtschaftlichen Kollaps des Vaters siedelte die Familie nach Berlin über, wo sie blieb, bis die Nazis sie verjagten. Deutsch war die Sprache seiner Mutter, und diese war es auch, die ihm die Liebe zur Literatur vermittelte: Mutter- und Literaturliebe in einem. Sie hatte am selben Tag wie Goethe Geburtstag, und Goethe wurde neben Thomas Mann zu Marcels Gott (der an Gott nicht glaubte).

Der Vater sprach polnisch, war wohl einigermaßen religiös und vor allem sehr schwach, passiv, bemitleidenswert. Reich-Ranicki litt unter seinem Vater in dem Maße, wie er seine Mutter verehrte. In seiner Autobiografie schildert er diese diffizile Schicht seines Lebens mit bewegender Offenheit. Beide Eltern, sowie sein Bruder, wurden in Treblinka ermordet. Er sah sie zuletzt im Warschauer Ghetto 1942, bedroht von einem peitschenschwingenden Deutschen.

Der letzte Satz, den seine Mutter an seine gerade angetraute Frau Teofila Langnas, genannt Tosia, gerichtet haben soll, lautet: „Kümmere dich um Marcel.“ Der junge Marcel Reich und seine Tosia wurden aufgrund seiner Position im Judenrat – noch – nicht abtransportiert. Später gelang dem jungen Ehepaar die Flucht aus dem Ghetto.

Sein Lebensziel musste er in Deutschland realisieren

Dass Marcel Reich-Ranicki, der den Holocaust mit Tosia dank eines polnischen Ehepaars überlebte, dennoch in die Bundesrepublik kam – nachdem er mit kommunistischen Hoffnungen und einer Episode als polnischer Konsul in London abgeschlossen hatte –, liegt ganz gewiss an den frühesten Schichten, an seiner Mutterliebe.

Die Sprache seines Vaters sprach er zwar bis zuletzt mit seiner Frau, doch blieb ihm Polen nach eigener Auskunft immer ein bisschen fremd. Sein Lebensziel, „Anwalt“ der deutschen Literatur zu sein, konnte er nur in Deutschland realisieren beziehungsweise in dessen westlichem Teil, der Bundesrepublik. Er lebte zunächst in Frankfurt am Main (1958 bis 1959), dann in Hamburg als Kritiker der Zeit (1960 bis 1973), anschließend wieder in Frankfurt, wohin ihn Joachim Fest holte, als dieser als Herausgeber zur FAZ ging. Den 1948 geborenen Sohn der Reichs, Andrzej Alexander (genannt Andrew), zog es jedoch fort aus Deutschland, er lehrt Mathematik in Großbritannien.

Dass die Beziehung zu dem geschliffenen, eleganten Hitler-Biografen Joachim Fest von Anfang an schwierig war, darauf weist Reich-Ranicki in seiner Autobiografie unmissverständlich hin. Da war zum einen die Sache mit Albert Speers Auftritt 1973 im Berliner Hause des Verlegers Wolf Jobst Siedler anlässlich des Erscheinens von Fests Hitler-Biografie. Reich-Ranicki behauptete, von der Gegenwart Speers überrumpelt worden zu sein, was der mittlerweile verstorbene Fest wiederum bestritt.

Zum endgültigen Bruch kam es dann im Zusammenhang mit dem „Historikerstreit“. Joachim Fest hatte den berühmt-berüchtigten Artikel Ernst Noltes abgedruckt, in dem dieser den Nationalsozialismus als Reaktion auf den Stalinismus deutete und relativierte.

Walsers Relativierung des Holocaust

Als im Grunde unpolitischen Menschen stellte Marcel Reich-Ranicki sich gegen Ende seines Lebens dar. Er wird seine Gründe gehabt haben, das zu behaupten, aber es war eine Finte. Fast alle Zerwürfnisse seines Lebens – mit Fest, mit Walter Jens, mit Grass, mit Martin Walser – gehen auf politische Sachverhalte zurück beziehungsweise auf die Frage, wie mit ihnen umzugehen sei, intellektuell ebenso wie biografisch. Grass’ Wiedervereinigungsroman „Ein weites Feld“ (1995) wurde von Reich-Ranicki in Form eines offenen Briefs im Spiegel klitzeklein geraspelt. Grass hätte lieber über die Liebe zu seiner Frau schreiben sollen, anstatt über die deutsche Wiedervereinigung, schob er im „Quartett“ nach. Die Kränkung war perfekt.

Martin Walser, ein anderer von Reich-Ranicki zunächst gelobter, dann verrissener Schriftsteller, verletzte nun wiederum den Kritiker mit seiner Friedenspreisrede 1998, in der Walser von der Instrumentalisierung unserer Schuld sprach: Wieder eine Relativierung des Holocaust, die zu akzeptieren Reich-Ranicki nicht bereit war.

Als Walser seinem inzwischen zum Hass ausgewachsenen Ressentiment gegen Marcel Reich-Ranicki in dem hochumstrittenen Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ (2002) beredten Ausdruck verlieh, da war es dann um die einst von gegenseitigem Respekt getragene Beziehung geschehen.

Am schmerzhaftesten mag für Reich-Ranicki jedoch der Bruch mit Walter Jens gewesen sein, dem engen Telefonfreund über Jahrzehnte. Jens und Reich-Ranicki verstanden einander fabelhaft, bis Tilman Jens, der Sohn des Tübinger Rhetorikprofessors, in einem Fernsehbeitrag Marcel Reich-Ranickis Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst während seiner Zeit als Konsul in London Ende der vierziger Jahre offenlegte. Von dieser Tätigkeit hatte Reich-Ranicki niemandem etwas erzählt (so wie Walter Jens niemandem etwas von seiner NSDAP-Mitgliedschaft erzählt hatte, wie wir heute hinzufügen dürfen).

Es stand der Vorwurf im Raum, Reich-Ranicki habe Mitglieder der antikommunistischen Exilregierung zur Rückkehr ins kommunistische Polen bewegt, wo sie inhaftiert worden seien. Reich-Ranicki bestand darauf: „Es gibt nichts, was ich bedauern würde, nichts, dessen ich mich schämen müsste.“ Walter Jens aber war nicht bereit, sich von dem Beitrag seines Sohnes zu distanzieren. Erst zehn Jahre später sollten die beiden alten Freunde öffentlich ihre Versöhnung zelebrieren.

Was tat er für den polnischen Geheimdienst?

Was auch immer Reich-Ranicki als polnischer Vizekonsul, dann Konsul und Offizier des Geheimdienstes 1948/49 in London getan hat, das letzte Wort dazu ist sicherlich noch nicht gesprochen. Reich-Ranicki sah sich im Sommer 1994 heftigen Angriffen wohl auch deshalb ausgesetzt, weil er selbst äußerst scharf mit Autoren und Autorinnen der DDR umgegangen ist, bei denen er eine sozialistische Vernebelung im Spiel sah. Über Christa Wolf, deren Stasi-Mitarbeit Ende der fünfziger Jahre bekannt geworden war, hatte Reich-Ranicki kurz vor Tilman Jens’ Fernsehbeitrag kompromisslos im Spiegel geurteilt. Seinen eigenen Irrtum pflegte das ehemalige Mitglied der polnischen KP mit Hinweis auf die Rote Armee zu erklären, die ihm und seiner Frau das Leben gerettet habe.

In politischen Bekenntnissen zur Enthaltsamkeit neigend, hat Reich-Ranicki sich doch zu einem Politiker rückhaltlos bekannt: zu Willy Brandt. In seiner Autobiografie hat er ihm sogar ein kleines Denkmal gesetzt. Brandt, von schwerer Krankheit gezeichnet, begegnete ihm Anfang 1990 in Nürnberg. Bei dieser Gelegenheit fragte ihn Brandt, wo er, Reich-Ranicki, denn die Nazijahre überlebt habe. „Als ich mit meinem kurzen Bericht fertig war, hatte jemand Tränen in den Augen. Willy Brandt oder ich? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich weiß sehr wohl, was ich mir dachte, als ich 1970 das Foto des knienden deutschen Bundeskanzlers sah: Da dachte ich mir, dass meine Entscheidung, 1958 nach Deutschland zurückzukehren und mich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch, doch richtig war.“

Seit Alfred Kerr hat es in Deutschland keinen derart populären Kritiker gegeben wie ihn, Marcel Reich-Ranicki. Nicht ausschließlich subtiler Geschmack, nicht unbedingt ästhetischer Wagemut haben Marcel Reich-Ranickis unglaublicher Karriere den Weg gewiesen, sondern sein schier ungeheurer Fleiß, seine Brillanz und der unbedingte Wille, Einfluss zu nehmen auf das literarische Geschehen in Deutschland, vor allem aber seine polarisierende, geschickt vereinfachende Rhetorik. Sein einzigartiges Temperament wusste alle Medien seiner Epoche zu bedienen, Radio, Zeitung, Buch und Fernsehen.

Und nicht zu vergessen: die Jury. Dem Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb saß er von 1977 bis 1986 vor. Man darf und muss sagen: Er ermöglichte, unterband und unterbrach im Laufe der Jahre etliche Schriftstellerkarrieren.

Das hohe Alter hat Reich-Ranicki als „furchtbar“ bezeichnet und dabei seinen jüdischen Humor – der unfreiwillig klang, aber nicht war – niemals verloren. Sein neunzigster Geburtstag mit der anschließenden Verleihung des Börne-Preises glich einem Staatsakt. Doch wer ihn aus der Nähe sah, las in einem Gesicht, das von Misstrauen erzählte und von unüberwindlichen Verletzungen. „Was ist für Sie das größte Unglück?“ Diese Frage aus dem Proust’schen Fragebogen beantwortete Marcel Reich-Ranicki eindeutig: „Der Tod.“ Seine Frau Tosja starb im April 2011. Am Mittwoch ist dieses größte Unglück nun auch für ihn eingetreten. Beendet ist eine Ära.

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